Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
zusammenhängt und festlegt, welchem Wahrnehmungsobjekt man sich bewusst zuwendet. Demnach wird der frontoparietale Cortex gebraucht, damit dem Betrachter bewusst wird, dass das Bild gerade »gekippt« ist.
DAS BILD AUF DER NETZHAUT EINES Auges ist zweidimensional, wie ein Gemälde oder ein Film, und doch sehen wir eine dreidimensionale Welt. Wie bringen wir diese Tiefenwahrnehmung zustande? Zu diesem Zweck nutzt das Gehirn im Wesentlichen zwei Gruppen von Kriterien – monokulare Kriterien und binokulare Disparitätskriterien.
Ein Großteil der Tiefenwahrnehmung, einschließlich der Perspektive, geht auf monokulare Kriterien zurück. Tatsächlich sind die Bilder, die die Netzhaut beider Augen jeweils liefert, ab einer Distanz von sechs Metern im Grunde identisch, obwohl sie wegen der Nase ein klein wenig auseinanderliegen. Demzufolge macht es keinen Unterschied, ob wir ein so weit entferntes Objekt mit einem oder beiden Augen betrachten. Dennoch bereitet es uns selten Mühe, die relative Position eines entfernten Objekts zu beurteilen. Wir nehmen auch mit einem Auge Tiefe wahr, weil sich das Gehirn einer Reihe von Tricks bedient, die wir monokulare Tiefenkriterien nennen (Abb. 16-7). Diese Kriterien sind Künstlern schon seit Jahrhunderten bekannt und wurden von Leonardo da Vinci zu Beginn des 16. Jahrhunderts systematisch erfasst.
140 Zeki, S., Inner Vision: An Exploration of Art and the Brain , Oxford 2001, S. 113.
141 Gregory, R., Seeing Through Illusions , New York 2009, S. 212.
Abb. 16-7.
Okklusion (Verdeckung):
Die Tatsache, dass Rechteck 4 den Umriss von Rechteck 5 unterbricht, weist darauf hin, dass sich Rechteck 4 weiter vorne befindet, lässt aber nicht darauf schließen, wie viel Abstand zwischen beiden liegt.
Lineare Perspektive:
Obwohl die Linien 6-7 und 8-9 parallel verlaufen, beginnen sie sich auf der Bildebene einander zu nähern.
Relative Größe:
Weil wir davon ausgehen, dass die beiden Jungen gleich groß sind, nehmen wir an, dass der auf der Bildebene kleinere Junge (2) weiter entfernt ist als der große (1). Aus diesem Grund wissen wir auch, wie viel näher uns Rechteck 4 als Rechteck 5 ist.
Bekannte Größe:
Der Mann (3) und der vordere Junge sind auf der Bildebene ungefähr gleich groß gezeichnet. Wenn wir wissen, dass der Mann größer ist als der Junge, folgern wir aufgrund ihrer jeweiligen Größe im Bild, dass der Mann weiter entfernt ist als der Junge. Dieses Kriterium ist schwächer als die anderen. (Nach Hochberg 1977)
Wenn wir statische Bilder, zum Beispiel Kunstwerke, betrachten, stehen uns fünf Arten von monokularen Kriterien zur Verfügung. Diese Kriterien sind besonders für Maler bedeutsam, weil diese normalerweise bemüht sind, eine dreidimensionale Szene auf eine zweidimensionale Oberfläche zu bannen. Das erste Kriterium ist die bekannte Größe : Das Wissen über die Größe einer Person aufgrund früherer Begegnungen hilft uns, die Entfernung dieser Person zu uns zu beurteilen (Abb. 16-7). Falls die Person kleiner erscheint, als wir sie vom letzten Mal in Erinnerung haben, ist sie höchstwahrscheinlich weiter von uns entfernt. Das zweite Kriterium ist die relative Größe : Wenn zwei Personen oder zwei ähnliche Objekte verschieden groß erscheinen, nehmen wir an, dass die kleinere Person oder das kleinere Objekt weiter entfernt ist. Darüber hinaus beurteilen wir die Größe eines Objekts, indem wir es mit seiner unmittelbaren Umgebung vergleichen (Abb. 16-8). Wenn wir zwei Personen sehen, die unterschiedlich weit von uns entfernt sind, beurteilen wir ihre Größe nicht, indem wir sie miteinander vergleichen, sondern mit den jeweiligen Objekten in ihrer unmittelbaren Umgebung. Bei dieser Art von Vergleich hilft uns auch unsere Vertrautheit mit anderen Objekten im Bild.
Abb. 16-8.
A.
Die Person im Vordergrund sitzt nah vor der Kamera, die Person im Hintergrund ist weiter entfernt.
B.
Die weiter entfernte Person wurde hier neben die näher sitzende Person montiert, sodass es aussieht, als säßen beide Figuren nah vor der Kamera. Nun scheint die Person links gravierend kleiner zu sein, obwohl sie genauso groß ist wie in Bild A.
Das dritte monokulare Kriterium ist Okklusion (Verdeckung): Wenn eine Person oder ein Objekt teilweise von einer anderen Person oder einem anderen Objekt verdeckt wird, gehen wir davon aus, dass die Person oder das Objekt im Vordergrund uns näher ist. So sehen wir in Abbildung 16-9 drei geometrische Formen auf einer flachen Oberfläche –
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