Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
einen Kreis, ein Rechteck und ein Dreieck. Der Kreis scheint uns am nächsten zu sein und das Rechteck am weitesten entfernt, weil der Kreis das Dreieck teilweise verdeckt und das Dreieck das Rechteck. Im Gegensatz zu anderen monokularen Tiefenkriterien, die eine absolute Position im Raum anzeigen können, lässt sich mithilfe der Okklusion nur die relative Entfernung bestimmen.
Das vierte Kriterium ist die lineare Perspektive : Parallele Linien, etwa Bahngleise, scheinen sich in einem Punkt am Horizont zu treffen. Je länger die Linien bis zu ihrem Zusammentreffen sind, desto weiter erscheint uns die Entfernung dorthin (Abb. 16-7). Das Sehsystem interpretiert die Annäherung der Linien (Konvergenz) unwillkürlich als Tiefe, weil es voraussetzt, dass parallele Linien immer parallel bleiben. Das fünfte monokulare Kriterium ist atmosphärische Perspektive . Wärmere Farben scheinen näher zu sein als kühlere, ebenso wie dunklere Objekte im Vergleich zu helleren.
Abb. 16-9
Der amerikanische Astronom David Rittenhouse, der das erste Teleskop der Vereinigten Staaten baute und für seine Kartierungs- und Vermessungskünste berühmt war, legte 1786 dar, dass Schattieren einen besonders starken Eindruck von Dreidimensionalität erzeuge. Dies beruhe auf zwei Grundannahmen, die, wie wir heute wissen, zum geistigen Rüstzeug unseres Gehirns gehören. Die eine Grundannahme besagt, dass nur eine einzige Lichtquelle das gesamte Bild beleuchtet; die andere lautet, dass diese Lichtquelle von oben kommt (Abb. 16-10). Unser Sehsystem geht von diesen Annahmen aus, weil die Evolution unseres Gehirns in einem Sonnensystem mit nur einer Lichtquelle, der Sonne, stattgefunden hat, und die scheint von oben. Aufgrund dieser Annahmen erscheint eine von oben beleuchtete runde Form konvex, während die gleiche runde Form konkav erscheint, wenn sie unten hell ist.
Abb. 16-10.
Licht und Schatten sind verlässliche Indikatoren für die Dreidimensionalität eines Objekts. Auch ohne andere Tiefenhinweise erkennen wir, dass dieses runde Gebilde eine dreidimensionale Kugel ist.
Diese Schlussfolgerungen ziehen wir ebenfalls, wenn wir uns das »Muffinblech« in Abb. 16-11 anschauen. Wir sehen drei Reihen konvexer Dellen, oder Muffins, die uns aus dem Bild entgegenspringen. Sie sind oben hell und unten dunkel, was der Wahrnehmung eines Balls entspricht, der einen Schatten wirft (Abb. 16-11A). Alle Objekte scheinen von einer einzigen, oben befindlichen Lichtquelle angestrahlt zu werden. Wenn wir die Abbildung jedoch auf den Kopf stellen, entsteht der umgekehrte Eindruck – nun sehen wir acht konkave Einbuchtungen. Diese Umkehrung erfolgt, weil unser Gehirn weiterhin annimmt, dass das Licht von oben kommt. Wir können die räumliche Ausdehnung der runden Formen auch umkehren, ohne die Seite zu drehen, indem wir uns vorstellen, dass das Licht von unten kommt – doch das ist schwieriger, weil wir so konstruiert sind, dass wir grundsätzlich von einer über uns befindlichen Lichtquelle ausgehen. Eine weitere automatische Schlussfolgerung wird in Abbildung 16-11B illustriert. Dort sind, wie in der vorigen Abbildung, drei Reihen von Dellen zu sehen. Hier werden sie jedoch von der Seite angestrahlt – die beiden mittleren runden Formen von links und die in der Reihe darüber und darunter von rechts. Möglicherweise erscheinen die mittleren – im Gegensatz zu den anderen – zunächst konkav, doch der Eindruck lässt sich leicht umkehren. Achten Sie darauf, dass die äußeren Reihen, wenn sie Ihre Wahrnehmung der mittleren Reihe bewusst umkehren, ebenfalls Ihre Orientierung ändern. Das zeigt erneut, dass das Gehirn ausnahmslos nur eine einzige Lichtquelle voraussetzt.
Abb. 16-11.
A.
Diese Objekte scheinen von oben angestrahlt zu werden. Ihre konvexe Ausrichtung lässt sich in eine konkave umkehren, wenn wir uns vorstellen, dass der Lichteinfall von unten kommt.
B.
Die mittlere Reihe scheint die entgegengesetzte räumliche Ausrichtung wie die beiden äußeren Reihen zu haben. Dieser Eindruck lässt sich zwar umkehren, doch es ist unmöglich, alle drei Reihen gleichzeitig als konvex oder als konkav wahrzunehmen.
Wie gesagt, verdeutlicht Abbildung 16-11A, dass die Annahme einer oben befindlichen Lichtquelle in unser Gehirn eingebaut ist. Faszinierenderweise steht diese Annahme nicht in Relation zum Horizont oder zur Umgebung, sondern zu unserem eigenen Kopf. Wir scheinen vorauszusetzen, dass die Sonne an unserem Kopf klebt – wenn wir den Kopf zur
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