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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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rechten Schulter neigen, erscheint die mittlere Reihe von Abbildung 16-11B unweigerlich konkav, und es wird viel schwieriger, die Wahrnehmung bewusst umzukehren. Wenn wir den Kopf nach links neigen, passiert das Gegenteil.
    Um bei Objekten, die weniger als 30 Meter entfernt sind, Tiefe wahrzunehmen, nutzen wir binokulare Disparitätskriterien gemeinsam mit monokularen Kriterien. Binokulare Disparität entsteht, wenn wir ein Objekt mit beiden Augen ansehen; die Augen betrachten das Objekt dann jeweils aus einer geringfügig anderen Perspektive. Dies wiederum erzeugt auf der Netzhaut der beiden Augen zwei geringfügig verschiedene Bilder. Das können Sie ausprobieren, indem Sie auf ein entferntes Objekt blicken und dann zuerst das eine und dann das andere Auge schließen.
    Hubel und Wiesel stellten fest, dass die jeweiligen Signale aus der Netzhaut der beiden Augen in gemeinsamen Empfängerzellen der primären Sehrinde zusammentreffen. Diese Konvergenz ist notwendig, aber nicht hinreichend für räumliches, oder stereoskopisches, Sehen – die Empfindung von Tiefe, die das binokulare Sehen ermöglicht. Für das räumliche Sehen ist darüber hinaus erforderlich, dass die Empfängerzellen in der primären Sehrinde die geringfügigen Unterschiede in den Signalen von den beiden Netzhautbildern vergleichen und uns dann ein einziges, dreidimensionales Bild präsentieren. Binokulares Sehen braucht man vor allem bei Arbeiten im Nahbereich. Schaut man über eine Entfernung von sechs Metern hinaus, reicht die Sicht mit einem Auge vollkommen. So entwickelte sich der Baseballspieler Jordan Underwood, der durch einen scharf geschlagenen Ball ein Auge verloren hatte, zu einem klasse Pitcher.
    DIE ERKENNTNISSE VON KUFFLER, HUBEL und Wiesel über die Dekonstruktion von Formen durch das Gehirn inspirierten den Briten David Marr, der theoretische Hirnforschung betrieb, zu einer kühnen neuen Theorie des Sehens. Wie in seinem 1982 posthum veröffentlichten Klassiker Vision beschrieben, kombinierte Marr die Kognitionspsychologie der visuellen Wahrnehmung, deren Pioniere Ernst Kris und Ernst Gombrich waren, mit den von Kuffler, Hubel und Wiesel gewonnenen physiologischen Einblicken in das Sehsystem sowie Prinzipien der Informationsverarbeitung. Auf diese Weise versuchte Marr zu erklären, in welcher Beziehung die Physiologie des Sehens, die Verarbeitung visueller Information und die Kognitionspsychologie der visuellen Wahrnehmung zueinander stehen.
    Marrs Grundidee lautete, dass die visuelle Wahrnehmung eine Abfolge von informationsverarbeitenden Schritten, oder Repräsentationen, durchläuft, die die jeweils vorausgehende transformiert und erweitert. Unter dem Einfluss von Marr haben Neurowissenschaftler in jüngerer Zeit ein dreistufiges Informationsverarbeitungsschema entwickelt. Die erste Stufe, die in der Netzhaut beginnt, ist die von Kuffler untersuchte visuelle Verarbeitung der unteren Ebene . Auf dieser Stufe werden die Merkmale einer spezifischen visuellen Szene durch Bestimmen der Position eines Objekts im Raum und Identifizieren seiner Farbe ermittelt.
    Die zweite Stufe, die in der primären Sehrinde beginnt, ist die von Hubel und Wiesel sowie Zeki beschriebene visuelle Verarbeitung der mittleren Ebene . Sie ordnet einfache Liniensegmente mit jeweils einer spezifischen Orientierungsachse zu den Konturen an, die die Begrenzungen eines Bildes definieren und so die einheitliche Wahrnehmung der Form eines Objekts konstruieren. Dieser Prozess wird Konturintegration genannt. Gleichzeitig wird das Objekt in einem Prozess namens Oberflächensegmentierung von seinem Hintergrund getrennt. Zusammen identifizieren die Verarbeitungsprozesse der unteren und der mittleren Ebene diejenigen Bereiche des Bildes als Figuren , die mit einem Objekt verknüpft sind, und die übrigen Bereiche als Hintergrund (Abb. 16-12).

Abb. 16-12.
Das Bild des Hundes links wird dekonstruiert und auf drei verschiedenen Ebenen des Sehens sowie auf zwei Bahnen verarbeitet. Beim Sehen auf der unteren Ebene werden die Position des Hundes im Raum und seine Farbe bestimmt. Das Sehen auf der mittleren Ebene setzt die Gestalt des Hundes zusammen und definiert sie als getrennt von ihrem Hintergrund. Das Sehen auf der oberen Ebene ermöglicht die Identifizierung eines spezifischen Objekts, des Hundes, und seiner Umgebung. Die »Was«-Bahn ist für Gestalt und Farbe des Hundebildes zuständig, die »Wo«-Bahn für die Bewegungen des Hundes. Die »Was«-Bahn de- und

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