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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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rekonstruiert das Bild in drei Verarbeitungsstufen.
    Diese Prozesse der unteren und mittleren Ebene erfolgen gemeinsam, meist über Bottom-up-Verarbeitung. Einige Prinzipien, die der Bottom-up-Verarbeitung zugrunde liegen, wurden von den Gestaltpsychologen untersucht, die Gesetze entwickelten, um zu bestimmen, welche Gruppierungen mit größter Wahrscheinlichkeit erkennbare Muster bilden. Ein Gruppierungsgesetz ist das der Nähe der Liniensegmente, die die Konturen eines Objekts bilden. Ein weiteres ist das der Ähnlichkeit in Farbe, Größe und Orientierung. Besonders wichtig für Konturen ist das Gesetz der guten Fortsetzung , das besagt, dass die Liniensegmente einer Figur allgemein so ausgerichtet und gruppiert sind, dass die Konturen einer durchgehenden, harmonischen Linie folgen (Abb. 16-13).
    Von den beiden Stufen gilt die visuelle Verarbeitung der mittleren Stufe als besonders schwierig, weil die primäre Sehrinde – bei einer komplexen visuellen Szene, die sich aus Hunderten oder sogar Tausenden Liniensegmenten zusammensetzt – entscheiden muss, welche Segmente sich zu einem Objekt fügen und welche zu anderen Objekten gehören. Die visuelle Verarbeitung der unteren und mittleren Ebene muss darüber hinaus Erinnerungen an frühere perzeptuelle Erfahrungen berücksichtigen, die in höheren Regionen des Sehsystems gespeichert sind.

    Abb. 16-13. Das Gestaltgesetz der guten Fortsetzung. Die Liniensegmente werden so gruppiert, dass sich die Konturen durchgehend fortsetzen. Das Segment A-O wird O-D zugeordnet, C-O wird O-B zugeordnet.
    Auf der dritten Stufe, der visuellen Verarbeitung der oberen Ebene , die auf der Bahn von der primären Sehrinde zum unteren temporalen Cortex erfolgt, werden Kategorien und Bedeutung festgelegt. Hier verrechnet das Gehirn die visuelle Information mit relevanten Informationen aus einer Vielzahl anderer Quellen und ermöglicht uns so, spezifische Objekte, Gesichter und Szenen zu erkennen. Bei dieser Top-down-Verarbeitung werden Schlüsse gezogen und Hypothesen in Bezug auf frühere visuelle Erfahrungen geprüft. Das Endergebnis ist dann die bewusste visuelle Wahrnehmung und die Interpretation der Bedeutung (siehe Kapitel 18). Die Interpretation der Bedeutung ist jedoch nicht fehlerfrei und kann zu Irrtümern führen.
    DIESE NEUROBIOLOGISCHEN UNTERSUCHUNGEN der visuellen Verarbeitung liefern eine erste Erklärung, warum die Strategien eines Künstlers, der auf einer zweidimensionalen Fläche dreidimensionale Objekte und menschliche Gestalten heraufbeschwört, so erfolgreich sind. In der natürlichen Welt wimmelt es von Kanten oder Rändern, die Oberflächen voneinander oder vom Hintergrund trennen. Künstler haben schon immer erkannt, dass Objekte durch ihre Gestalt definiert sind, die sich ihrerseits von ihren Rändern herleitet. Beim Malen kann der Künstler einen Rand mithilfe eines Farb- oder Helligkeitswechsels zwischen zwei Bereichen oder durch eine angedeutete Linie abbilden. Die Ränder eines Objekts trennen eine Oberfläche mit gemeinhin einheitlicher Farbe, Helligkeit oder Textur von einer anderen. Konturen sind in einem Gemälde nur wichtig, um eine Form schärfer zu definieren.
    Strichzeichnungen beruhen dagegen gänzlich auf dem Gebrauch von Linien – entweder einfachen Linien , schmalen, einheitlich gefärbten Markierungen, die deutlich länger als breit sind, oder Konturlinien , die eine Grenze um ein Objekt oder Gesicht ziehen und damit seine Ränder definieren. Weil Künstler in Strichzeichnungen keine Helligkeitsveränderungen abbilden können, müssen sie auf Konturlinien zurückgreifen, um den Effekt einer zweidimensionalen Kante zu erzeugen. Durch leichtes und intensiveres Schattieren von Konturlinien lassen sich komplexe Konturen erzeugen, die dreidimensional wirken. Und dann gibt es noch expressive Konturen – Linien, die typischerweise ungleichmäßig, dick oder dünn, geschwungen oder zackig sind –, um den Ausdruck einer Emotion zu verstärken.
    Strichzeichnungen sind in sämtlichen Kunstrichtungen aller Kulturen vertreten. Ihre Allgegenwart, in Gestalt von Zeitungscomics bis hin zu Höhlenzeichnungen, verdanken sie unter anderem der Tatsache, dass sie intuitiv zu verstehen sind. Der Umriss eines lächelnden Gesichts wird umgehend als lächelndes Gesicht interpretiert. Aber wieso? In der wirklichen Welt gibt es so etwas wie Umrisse nicht – Objekte und Hintergründe gehen ohne klare Begrenzungen ineinander über. Dennoch bereitet es uns keine

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