Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Schwierigkeiten, in einer Strichzeichnung eine Hand, eine Person oder ein Haus zu erkennen. Die Tatsache, dass diese Art von Stenografie so mühelos funktioniert, sagt uns eine Menge über die Operationen unseres visuellen Verarbeitungssystems.
Die Erfolgsgeschichte der Strichzeichnungen beruht darauf, dass unsere Hirnzellen, wie Hubel und Wiesel herausgefunden haben, Linien und Konturen mit Leichtigkeit als Kanten oder Ränder interpretieren. Das Gehirn verarbeitet einfache Linien zu Rändern, die eine Figur von ihrem Hintergrund abheben. Sobald unsere Augen geöffnet sind, konstruieren Zellen der primären Sehrinde, die auf Orientierung spezialisiert sind, die Elemente von Strichzeichnungen in der Szene vor uns. Zudem nutzt die primäre Sehrinde die hemmenden Bereiche in den rezeptiven Feldern dieser Neuronen, um die Konturlinien eines Bildes zu verschärfen.
Abb. 16-14
Abb. 16-15
Abb. 16-16
Mach’sche Streifen.
Beachten Sie den dunklen Streifen unmittelbar rechts vom mittleren Band und den hellen Streifen unmittelbar links davon.
In Abb. 16-15 wurde der Effekt künstlich verstärkt.
Auf dieses Phänomen schloss der österreichische Physiker und Philosoph Ernst Mach schon, bevor Hubel und Wiesel es auf der Zellebene erforschten. Mach entdeckte eine optische Illusion, die man heute als Mach’sche Streifen bezeichnet. Grenzt ein hellerer Bereich direkt an einen dunkleren Bereich an, nehmen wir Linien mit verstärktem Kontrast an der Grenze zwischen diesen Bereichen wahr (Abb. 16-14, 16-15, 16-16). Auf diese Weise erscheint der helle Bereich in der Nähe der Grenze deutlich heller und der dunkle sehr viel dunkler. In Wahrheit existieren diese Linien nicht. Mittlerweile wissen wir, dass sie von der Struktur rezeptiver Felder hervorgerufen werden: Der zentrale erregende Bereich eines rezeptiven Feldes – entweder ein kleiner Kreis, wie in Netzhaut und Thalamus, oder ein Balken, wie in der Hirnrinde – ist von hemmenden Bereichen umgeben, die Kontraste betonen und sowohl dunkle als auch helle Oberflächen am Rand verstärken. Das führt zur Wahrnehmung der schärfer konturierten Grenzen der Mach’schen Streifen.
Abb. 16-17.
Objekterkennung. In einer Umrisszeichnung sind Objekte deutlich zu erkennen, weil Kanten bei der perzeptuellen Organisation des Gesichtsfeldes aussagekräftige Hinweise geben.
Unsere Fähigkeit, Konturen in einer Zeichnung als Kanten wahrzunehmen, ist nur ein einziges Beispiel für die vielen wichtigen Unterschiede zwischen der Wahrnehmung von Bildern und der Wahrnehmung der wirklichen Welt. Oft sind die Informationen, die gezeichnete Konturlinien enthalten, weniger reichhaltig oder sogar anders geartet als die Informationen, die Kanten in der Realität liefern, doch wie wir in Abbildung 16-17 sehen, ist das nicht weiter schlimm. In einer Zeichnung reichen Konturlinien aus, um Kanten und Ränder aller Art zu repräsentieren. Weil Konturlinien die Ränder von Objekten anzeigen, können wir Objekte voneinander unterscheiden und selbst in den einfachsten Strichzeichnungen ohne Schatten oder Farben Bedeutungen und Stimmungen wahrnehmen (Abb. 16-17).
Abb. 16-18.
Rembrandt Harmenszoon van Rijn,
Selbstbildnis mit 63 (1669).
Öl auf Leinwand.
Abb. 16-19.
Strichzeichnung von Rembrandts Selbstporträt.
Der Neurowissenschaftler Charles Stevens verdeutlicht diesen Punkt noch nachhaltiger an einem Selbstporträt Rembrandts aus dem Jahr 1669 (Abb. 16-18). Stevens vergleicht eine Strichzeichnung, die den Künstler darstellt (Abb. 16-19), mit dem Gemälde und zeigt, dass man in der Zeichnung gut ein ähnliches, dreidimensionales Abbild Rembrandts erkennen kann, obwohl sie dem Gemälde nur entfernt gleicht. Laut Stevens offenbart unsere Fähigkeit, eine Strichzeichnung von Rembrandt umgehend und mühelos zu erkennen, einen grundlegenden Aspekt der Repräsentation von Bildern im Gehirn. Damit wir ein Gesicht erkennen, reicht es aus, das Gesicht auf einige spezielle Konturlinien zu reduzieren, die Augen, Mund und Nase definieren. Das verleiht Künstlern die Freiheit, Gesichtszüge extrem zu verzerren, ohne dass unsere Fähigkeit, sie zu erkennen, beeinträchtigt wird. Wie Kris und Gombrich betont haben, ist das der Grund, warum Karikaturisten und Expressionisten so starke Gefühle in uns wachrufen können.
Dass Künstler so erfolgreich mit Konturen in Zeichnungen Ränder darstellen, wirft eine elementare Frage über unsere Wahrnehmung von Kunst auf: Ist sie erlernt oder genetisch bedingt? Erlernen
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