Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
wir die Konvention, dass Künstler in der Natur vorkommende Kanten durch Konturlinien ersetzen können? Oder besitzt unser Sehsystem die angeborene Fähigkeit, die künstlerische Darstellung eines Gesichts oder einer Landschaft als reales Gesicht oder reale Landschaft wahrzunehmen?
Margaret Livingstone weist darauf hin, dass die Fähigkeit von Künstlern, das Sehsystem auf diese Weise auszutricksen, schon seit den allerersten Zeichnungen bekannt war und verbreitet genutzt wurde. Schon zum Ende der Altsteinzeit, vor etwa 30000 Jahren, erfassten Höhlenmaler in Südfrankreich (zum Beispiel in Lascaux) und Nordspanien (Altamira) intuitiv, dass das Gehirn über das, was es zu sehen gibt, Vermutungen anstellt. Um ein dreidimensionales Bild zu erzeugen, schufen diese Künstler mit einfachen Konturlinien Begrenzungen und mit Helligkeitseffekten Konturen (Abb. 16-20). Solche Zeichnungen täuschen drei Dimensionen vor, weil sie im Gehirn der Betrachter Höhe, Breite und Gestalt der betreffenden Objekte oder Personen umreißen.
Abb. 16-20.
Stier und Pferd . Höhlenmalerei aus der Höhle von Lascaux, Périgord, Dordogne, Frankreich.
IN EINEM WEITEREN SINNE IST DIE Fähigkeit unseres Sehsystems, Konturen in einer Zeichnung als Ränder zu interpretieren, nur ein einziges Beispiel für unser Vermögen, auf einer zweidimensionalen Fläche eine dreidimensionale Figur zu sehen. Diese kreative Neuschöpfung, die auf der Verarbeitung der Informationen von der Netzhaut beruht, ist besonders augenfällig, wenn es um Kunst geht. Wie wir gesehen haben, erhält die Netzhaut aus der sichtbaren Außenwelt nur begrenzte Informationen. Daher muss das Gehirn pausenlos kreative Vermutungen und Annahmen über das, was es da draußen zu sehen gibt, produzieren. Wie realistisch Gemälde oder Zeichnungen auch sind – sie existieren immer nur auf einer zweidimensionalen Oberfläche, die es mental zu bearbeiten gilt.
Der Wahrnehmungsforscher Patrick Cavanagh bezeichnet die technischen Hilfsmittel, mit denen Künstler diese Illusionen schaffen, als vereinfachte Physik . Diese Hilfsmittel ermöglichen es dem Gehirn, ein zweidimensionales Kunstwerk als dreidimensionales Abbild zu interpretieren, wie uns die Strichzeichnung von Rembrandt gezeigt hat:
Diese Verstöße gegen die Standardphysik – unmögliche Schatten, Farben, Reflexionen oder Konturen – bleiben von den Betrachtern häufig unbemerkt und beeinträchtigen ihr Verständnis der Szene nicht. Das macht die Verstöße zu neurowissenschaftlichen Entdeckungen. Weil wir sie nicht bemerken, offenbaren sie, dass unser Sehsystem eine einfachere, reduzierte Physik anwendet, um die Welt zu begreifen. Künstler nutzen diese alternative Physik, weil solche spezifischen Abweichungen von der wahren Physik die Betrachter nicht stören – die Künstler können Verkürzungen wählen, Hinweise ökonomischer präsentieren und Oberflächen und Lichter so arrangieren, dass sie eher der künstlerischen Botschaft entsprechen als den Erfordernissen der physischen Welt. 142
Cavanagh behauptet, dass unser Gehirn die regulären Gesetze der Physik nicht auf künstlerische Darstellungen anwendet. Vielmehr dürfen Gemälde die Möglichkeiten der Realität sprengen – ihren Betrachtern fallen inkonsistente oder unmögliche Farben, Beleuchtungen, Schatten und Spiegelungen kaum einmal auf. Diese sind genauso unwahrscheinlich wie die unverblümteren perspektivischen Verzerrungen des Kubismus oder die drastischen Übertreibungen in der Farbgebung bei Fauvisten und Impressionisten, doch sie bleiben unentdeckt und beeinträchtigen unser Verständnis des Bildes nicht.
Die Fähigkeit des Gehirns, Illusionen oder vereinfachte Physik in Kunstwerken zu tolerieren, bezeugt seine bemerkenswerte visuelle Flexibilität. Diese hat Künstlern zu allen Zeiten bei der Abbildung einer visuellen Szene beträchtliche Freiheiten eingeräumt, ohne die Glaubwürdigkeit des Bildes unweigerlich einzuschränken. Die Freiheiten reichten von den subtilen Manipulationen und Differenzierungen von Licht und Schatten bei den Künstlern der Renaissance bis zu den unverhohlenen und drastischen räumlichen und farblichen Verfremdungen der österreichischen Expressionisten. Die Arten der Verfremdung, die wir tolerieren, und die Annahmen über Physik, auf denen diese bildlichen Charakteristika beruhen, verschaffen uns großartige Erkenntnisse über die Art und Weise, wie das Gehirn Bildern einen Sinn verleiht.
Donald Hoffman, ein weiterer Erforscher
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