Das zerbrochene Fenster: Thriller (German Edition)
Tat er irgendwie wohl auch. »Ich geh wieder nach Hause. Hoffentlich hab ich euch nicht zu sehr gestört.« Und bevor er zur Haustür rausging: »Er war kein schlechter Mensch.«
Ich sah mir alles mit Michael zusammen an. Alte Postkarten, die sich Sean offenbar als Junge irgendwo gekauft und selbst geschrieben hatte. Fotos von Sean als Kind mit seiner Mutter, mit Pete, mit beiden. Am Strand, in St Andrews, in den Highlands, in Glasgow. Wenige Fotos aus der Pubertät, noch weniger von Sean als jungem Mann. Er hatte gut ausgesehen, aber irgendwann hatte er einen harten Zug um die Augen herum bekommen. Einen kalten Blick, den ich manchmal auch gesehen hatte.
Ein paar handgeschriebene Blätter, Schulaufsätze. Ein paar selbst gemalte Bilder.
»Warum gibt er mir das?«, fragte ich Michael.
»Damit du siehst, dass Sean auch mal ein Kind war. Fragen wir ihn das nächste Mal, wenn wir ihn sehen.«
»Was ist das?« Ich hielt ein dunkelblaues Büchlein in der Hand.
»Kalender? Notizbuch? Adressbuch?«
Ich öffnete es. Ein Notizbuch mit einem Adressregister. Im Notizteil hatte sich Sean alle möglichen Geburtstage notiert, es gab ein paar Skizzen, die wie Wegbeschreibungen aussahen, Einkaufslisten, alles Mögliche. Ich blätterte zum Adressteil vor und sah nur Namen, mit denen ich nichts anfangen konnte. Es waren nicht viele, aber keiner war mir bekannt. Seans Leben vor meiner Zeit. Vor einer Zeit, in der er ein Handy besitzen würde.
»Moment.« Michael nahm mir das Büchlein aus der Hand und blätterte ein paar Seiten zurück. »Hier. Oh, da hat er wohl jemanden gar nicht gemocht. ›Stirb, Schlampe!‹ steht hier. Den Namen hat er leider durchgestrichen.«
Ich nahm es wieder an mich. Versuchte, den Namen unter den Kugelschreiberstrichen zu lesen. Hielt die Seite gegen das Licht, kniff die Augen zusammen, konzentrierte mich auf jeden einzelnen Strich.
»Kjellberg«, entzifferten wir nach ein paar Minuten. »Was ist das für ein Name?«
»Skandinavisch, glaube ich«, sagte Michael. »Schwedisch?«
»Nie gehört. Er hat nie von einem schwedischen Freund gesprochen.«
»Wohl eher eine schwedische Freundin«, sagte Michael. »Immerhin soll die Schlampe sterben.« Ich versuchte es weiter. »Mit L …«, sagte ich. Und dann sah ich den Namen vor mir, als hätte ihn Sean nie durchgestrichen: »Lillian Kjellberg!«
»Wer ist das? Du klingst, als würdest du sie kennen.«
Ich nickte. »Ich habe mal Tee mit ihr getrunken.«
Es gibt keine Zufälle. Nie.
22.
Die Fahrt zum Loch Awe dauerte fast vier Stunden. Dana musste langsam fahren, weil die Straßen abseits der Autobahn nur schlecht geräumt waren. Cedrics Mercedes hatte zwar Winterreifen, aber das half bei vereisten Stellen und Schneeglätte nicht. Ben hatte sich nicht auf den Beifahrersitz, sondern nach hinten gesetzt, um nach Cedric zu sehen. Er kontrollierte immer wieder Cedrics Puls und achtete darauf, dass er richtig lag.
Sie sprachen nur das Allernötigste. Dana hatte den Eindruck, dass es Ben ähnlich schlecht ging wie Cedric, aber wohl aus anderen Gründen. Er hatte eine Schwellung an der Stirn, seine Augen waren blutunterlaufen, darunter dunkle Ringe, und immer wieder nickte er ein. Er schien froh, nicht viel reden zu müssen, und er gab sehr schnell auf, ihr Fragen zu stellen. Sie hatte nur gesagt: »Wir fahren zu Loch Awe. Dort ist meine Schwester. Ich habe es heute Morgen erfahren.« Alles Weitere würde er noch früh genug mitbekommen.
Es hatte die ganze Nacht nicht geschneit, und Dana erlebte nun einen der schönsten Sonnenaufgänge ihres Lebens. Die hügelige Landschaft schien mit einer perfekten Schneedecke überzogen, die Sonnenstrahlen glitzerten darauf, als träfen sie auf geschliffenes Glas. Sie fuhr bei Stirling von der Autobahn ab, die Straße schlängelte sich durch Callander und den Loch Lomond and the Trossachs National Park, vorbei an wunderschönen kleinen Seen und durch märchenhaft verschneite Wälder, später dann am Südufer von Loch Awe entlang bis zu einer mittelalterlichen Ruine. Pete wartete dort auf sie. Er stand neben einem klapprig wirkenden alten Vauxhall, und als er Dana erkannte, ging er zum Kofferraum und öffnete ihn. Dana parkte neben ihm.
»Der Junge kann nicht mit«, sagte Pete, als er Cedric sah. »Der sieht krank aus.«
»Alles in Ordnung«, sagte Cedric, und Dana musste lächeln, als sie sah, wie er sich um Haltung bemühte.
»Keiner von Ihnen hat anständige Kleidung. Haben Sie denen denn nichts gesagt?«
Dana
Weitere Kostenlose Bücher