Das zerbrochene Fenster: Thriller (German Edition)
Zigarette auf den Boden, stellte sich meinem Vater in den Weg und hielt ihm einen sehr langen Vortrag, in dem es nicht nur um die Rolle der Gewerkschaften und die Situation der Arbeiterklasse, sondern auch – oder vor allem – um mich ging. Wie unverschämt er es fände, dass Mr Murray, Chef hin oder her, so über seine fleißigste, wenn nicht beste Mitarbeiterin sprach. Und so weiter. Ich glaube, so hatte noch nie jemand mit meinem Vater gesprochen, und ich glaube auch, dass das einer der Gründe ist, warum er Sean nie mochte. Es war aber auch das erste Mal, dass sich jemand so für mich eingesetzt hatte. Wie hätte ich Sean nicht lieben können?
Es dauerte noch zwei oder drei Wochen, erst dann verbrachten wir zum ersten Mal eine Nacht zusammen in dem schmalen Bett seines Pensionszimmers. Meine letzte Beziehung lag zu diesem Zeitpunkt schon zwei Jahre zurück, danach hatte ich nur unbefriedigende Affären gehabt, die nie länger als eine Woche gedauert hatten. Ich war sexuell ausgehungert, und Sean konnte mir genau das geben, was ich wollte. Es brauchte keine Worte, keine Erklärungen, er reagierte auf meinen Körper und ich auf seinen, als wären wir füreinander gemacht. Eine so perfekte Übereinstimmung hatte ich noch nie erlebt.
Nach dieser Nacht wollte ich nicht mehr ohne ihn sein. Ich fühlte mich aufgehoben und angekommen. Wenn Sean mich in die Arme schloss, war die Welt in Ordnung. Die nächsten Wochen vergingen wie im Rausch, aber dann kam die Ernüchterung: Sean sagte mir, dass er wieder nach Schottland gehen würde.
Ich weiß nicht genau, was es war. Ob ich ein Zögern hineininterpretierte, wo keins war, ob ich einfach etwas anderes hören wollte als das, was er sagte. Jedenfalls fühlte ich mich verraten, weil er wegging. Warum blieb er nicht? Es gab hier genug Arbeit für ihn. Erwartete er etwa, dass ich mit ihm ging? War das sein Verständnis von Partnerschaft – er fällte Entscheidungen, und ich hatte mich zu fügen? Ich wünschte ihm alles Gute für Schottland, er erwiderte nichts. Dann ließ ich ihn in seinem düsteren Pensionszimmerchen sitzen. Nachdem er abgereist war, blieb ich eine Woche im Bett und weigerte mich aufzustehen. Unser alter Hausarzt, der von Matt gerufen worden war, diagnostizierte Liebeskummer. Er kannte mich noch gut von früher. Und er kannte die Menschen. Ich benahm mich so albern und jämmerlich, wie man es nur tut, wenn man Liebeskummer hat. Ich dachte, die Welt ginge unter. Als mein Vater erfuhr, was mit mir los war, verlangte er, dass ich den Kerl auf der Stelle vergesse. Ich packte meine Sachen, ging nach London und nahm einen gut bezahlten Job im Steinway Restoration Centre an. Ich fand eine Wohnung im West End, von der aus ich zu Fuß zur Arbeit gehen konnte. Ich lernte Alfred Brendel kennen und durfte für ihn arbeiten.
Als man in New York davon erfuhr, dass ich in London arbeitete, wurde alles versucht, um mich zurückzuholen, aber ich sagte, ich müsste aus familiären Gründen in England bleiben. Man ließ mich in Ruhe, und meine Chefs taten alles, um mir das Leben zu versüßen.
Es war eine schöne Zeit. Sean fehlte mir, aber ich wäre früher oder später über ihn hinweggekommen. Nein. Ich will mich nicht selbst anlügen. Ich dachte jeden Tag an ihn. Als er eines Tages vor mir stand, war ich die glücklichste Frau auf der Welt. Er hatte nach mir gesucht, er hatte mich gefunden, er wollte mir sagen, dass er ohne mich nicht leben wollte, und er war bereit, dort zu leben, wo ich war. Ich war davon so überwältigt … ich war glücklich, ihn wiederzuhaben, und ich fühlte mich – natürlich – auch geschmeichelt, dass er bereit war, alles für mich aufzugeben. (Nicht, dass dieses »Alles« viel gewesen wäre …)
Wir weinten, lachten, redeten viel und liebten uns. Ich wollte von ihm wissen, warum er nicht mehr um mich gekämpft hatte, nicht versucht hatte, mich zu überreden, mit ihm zu kommen.
»Du hattest mir kurz vorher gesagt, wer dein Vater war. Und ich dachte, okay, sie hatte eine nette kleine Affäre mit einem Arbeiter, vielleicht sogar, um Daddy zu ärgern, und jetzt ist sie froh, dass sie einen Anlass hat, mit ihm Schluss zu machen.«
Also hatten wir beide völligen Unsinn gedacht … um ein Haar hätten uns diese Missverständnisse für immer auseinandergebracht. Jetzt waren wir aber zusammen, und es schien klar, dass das auch so bleiben würde.
Es folgten einige Monate Fernbeziehung. Ich hatte nur sporadisch Kontakt zu meinen Eltern – wie
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