Das zerbrochene Fenster: Thriller (German Edition)
sich melden würde – und wechselte zur Startseite des Scottish Independent .
»Passt wie maßgeschneidert«, hörte er D. L. stolz sagen und sah auf. John stand vor ihm: dunkelblauer Rollkragenpullover, dunkelgraue Stoffhose, schwarze, halbhohe Stiefel, vermutlich wintertauglich. Er hatte seinen Vater noch nie so gut gekleidet gesehen. D. L. hatte definitiv eine Zukunft.
»Was hat mich das gekostet? Hab ich dir so viel Geld mitgegeben, D. L.?«
Der Junge grinste. »Alles Second Hand. Im Wohnzimmer ist noch mehr. John, zieh den Mantel an.«
John drehte sich auf dem Absatz um und kam zwei Sekunden später mit einem hellgrauen Wollmantel zurück. Er ging so aufrecht wie schon seit dreißig Jahren nicht mehr, und er schmunzelte wie der Star eines West-End-Musicals, der eben einen Filmvertrag mit Hollywood unterschrieben hatte.
Ben sah sich die Sachen aus der Nähe an: natürlich Second Hand. Hier und da abgewetzt und oder ausgebeult. Kleidung, die aussah, als hätte John sie schon eine Weile besessen. Sie passte wirklich wie maßgeschneidert.
»D. L., du bist genial. Wie hast du die Sachen gefunden? Und so schnell?«
»Ich kenne diese Stadt«, sagte D. L. und zwinkerte ihm zu. »Ich weiß, was es wo gibt.«
John stolzierte durch die enge Küche wie über einen Laufsteg. Wann immer er kurz stehenblieb, wippte er in den Schuhen herum, als müssten sich seine Füße erst richtig in ihnen verteilen.
»Drücken sie?«, fragte D. L. besorgt.
»Nein, gar nicht.«
»Warum machst du dann so rum?«
»Weil ich mich wundere, dass sie nicht drücken.«
»Das ist alles Topqualität«, sagte D. L., stolz und ernst. »Designer.« Er zeigte auf das Label im Mantel. »Kostet neu ein paar Hundert.«
Jetzt sah John aus, als würde er jeden Moment losheulen.
»Wunderbar, meine Herren«, sagte Ben. »Wenn Sie sich dann bitte in den Konferenzraum zurückbegeben, die Kantine wird anderweitig gebraucht.«
Sein Laptop stand im Wohnzimmer, aber er würde heute nicht arbeiten. Er würde vielleicht nicht einmal ans Telefon gehen, wenn Cedric anrief. Er rief wieder die Startseite des Scottish Independent auf und überflog die regionalen Nachrichten: Überall ging es ums Wetter. Den Schnee im Osten. Den eisigen Regen im Westen. Warnungen an die Bevölkerung. Berichte über Zugausfälle, PKW-Unfälle, Stromausfälle. Läden, die nicht mehr beliefert wurden. Schulen, die geschlossen hatten. Man konnte meinen, die Welt ginge unter. Eine Meldung mit einem anderen Thema, endlich: Einbruchserie in Fife. Ben wunderte sich, warum die Meldung so weit unten stand, dann sah er, dass sie bereits einen Tag alt war. Er tippte den Beitrag an: In der Gegend um St. Andrews hatte es fünf Einbrüche gegeben. Kein Hinweis auf die Täter. Polizei geht davon aus, dass es sich jeweils um dieselben handelt. Und so weiter. Keine Verletzten, keine Brandstiftung, nur ein paar reiche Menschen, die jetzt noch nicht einmal weniger reich waren, weil ihnen die Versicherungen ihren Schaden ersetzen würden. Und wer weiß, selbst, wenn sie kein Geld bekamen, würden sie es wahrscheinlich auch nicht merken, dass etwas fehlte.
Ben war ohne Geld, ohne nennenswerte Bildung aufgewachsen. Sein Vater war nach der Schließung der Minen im County Durham arbeitslos geworden und hatte seitdem auch keinen Job mehr gefunden. Nicht, dass er sich um einen bemüht hätte. Seine Mutter hatte nie gearbeitet. Sie war Hausfrau und Mutter, beides nicht besonders gut, aber es war ihr Platz gewesen. Bens Brüder hatten nie Ambitionen entwickelt, eines Tages ein anderes Leben zu führen. Aber er hatte alles getan, um so schnell wie möglich wegzukommen. Er hatte Stipendien bekommen, studiert, gearbeitet. Er hatte in den Kreisen derer verkehrt, die nie um etwas kämpfen mussten. Seine Exfreundin Nina war aus wohlhabendem Hause gekommen. Er hätte sie heiraten und in der Firma ihres Vaters einen überbezahlten, bequemen Job bekommen können. Beides hatte er nicht getan. Sein Chef Cedric Darney, der millionenschwere Herausgeber des Scottish Independent , war auf seltsame und sehr einseitige Weise eine Art Freund geworden. Ben hatte auch durch ihn alle Türen offen vor sich gefunden. Und er hatte sie selbst für immer zugeschlagen. Weil er trotz allem doch nicht dazugehörte, weil er aus einer runtergekommenen Arbeitersiedlung in Nordengland kam, weil er seine Familie niemals zur Hochzeit mit Nina hätte einladen können, niemals zu einem gemeinsamen Weihnachtsfest oder einem Geburtstag.
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