Das zerbrochene Fenster: Thriller (German Edition)
Ein Kollege fotografierte ihn und brachte das Bild am nächsten Tag: Ben, der auf einer Holzkiste stand und die Kleidung anpries, umringt von begeisterten Obdachlosen, die ihm zuprosteten oder Beifall klatschten. Wenn er Pech hatte, wurde es zum »Foto des Jahres«.
Es war das erste Mal, dass sie sich so lange über seine Arbeit unterhielten. Er spürte, wie fremd seinem Vater Bens Leben war und welche Schwierigkeiten er hatte zu begreifen, dass es tatsächlich sein Sohn war, der all das, von dem er gerade erfuhr, erlebt hatte. D. L. hatte sich zu ihnen gesetzt und füllte die Lücken, die Ben gerne gelassen hätte.
»Wie im Fernsehen«, sagte John. »Ehrlich, so was kennt man nur aus dem Fernsehen. Das ist, was Leute aus dem Fernsehen machen.« Er nickte, klopfte seinem Sohn auf die Schulter, nickte wieder. Seine Art zu loben. Mehr, als Ben erwartet hatte.
»Und jetzt bist du dran, John«, sagte D. L.
John verstand nicht.
»Na, was ist bei dir so los? Irgendwelche Pläne? Arthur’s Seat kannst du bei dem Wetter vergessen, das Schloss hast du bestimmt schon gesehen, für den Zoo bist du zu alt.« Er lachte über seinen eigenen Witz. »Also? Was habt ihr vor?«
»Ich hab das Schloss noch nicht gesehen«, sagte John.
»Er hat das Schloss noch nicht gesehen?« D. L. sah Ben an.
»Er ist zum ersten Mal hier«, sagte Ben.
Der Junge brauchte nicht lange, um zu verstehen. Er biss sich auf die Lippe, verabschiedete sich, verschwand nach unten. John tat so, als inspiziere er aufs Genaueste seinen Mantel.
»Und? Was hast du vor? Schloss anschauen?« Ben senkte den Blick zu seinem Smartphone.
»Lohnt es sich?«
»Warum bist du hier?« Er tippte auf der Seite des Scottish Independent herum, gab sich beschäftigt und interessiert, ohne aber wirklich etwas zu lesen.
»War halt noch nie hier«, sagte John.
»Und das ist dir jetzt eingefallen?« Er ging auf die Seite mit den internationalen Nachrichten. Las sie nicht.
»Ich musste mal raus. Was anderes sehen. Wenn der Junge sagt, dass das Schloss schön ist, können wir doch zum Schloss gehen. Ich muss mal was anderes sehen.«
»Nach sechzig Jahren fällt dir ein, dass du mal was anderes sehen willst?« Er hatte den Satz noch nicht beendet, als ihn ein Gedanke ins Gesicht schlug. »Bist du krank? Ich meine, so richtig …?«
»Quatsch«, sagte John.
»Sag die Wahrheit.«
»Ich bin nicht krank. Ich hab nur Kopfschmerzen. Ich bin nicht krank.«
Ben sah auf, tippte blind auf dem Touchscreen herum. »Es wäre ziemlich schwachsinnig, mich bei so etwas anzulügen, das weißt du, oder?«
John schüttelte den Kopf.
»Soll ich deshalb nicht zu Hause anrufen?«
»Vergiss es, ich bin nicht krank.«
»Was dann? Du hast dich sechzig Jahre lang nicht aus diesem Scheißkaff rausbewegt. Nicht mal nach Durham, um dir die Kathedrale anzuschauen. Und dann kommst du unangemeldet nach Edinburgh und fragst, ob wir zum Schloss gehen?«
»Ich hab die Kathedrale schon mal gesehen«, sagte John beleidigt.
»Du bist seit fünfundzwanzig Jahren arbeitslos. Du warst nie im Urlaub. Du hast nie Ausflüge gemacht, weder mit uns Kindern noch mit Mutter, und alleine schon gar nicht. Du unterstützt ein Fußballteam, das du ewig nicht mehr live im Stadion gesehen hast, weil du in fünfundzwanzig Jahren nicht genug Geld beisammen hattest, um dir eine Karte zu kaufen. Und jetzt bist du in Edinburgh und willst das Schloss sehen?«
John sprang auf. »Scheiß auf das Schloss!« Dann fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht, setzte sich wieder hin und sagte leise: »Scheiß auf das alles.«
»Wie bist du überhaupt hergekommen?«
»Per Anhalter.«
»Ist nicht dein Ernst!«
»Wie denn sonst?«
Jetzt fuhr sich Ben mit der Hand übers Gesicht. Dieselbe Geste, er merkte es zu spät. Sohn deines Vaters, dachte er. »Also, sag, was los ist.«
John seufzte, wand sich, schloss die Augen, und als er sie öffnete, konnte Ben darin Tränen sehen. »Ich habe deine Mutter verlassen«, sagte John und klang irgendwie feierlich. »Nach vierzig Jahren habe ich deine Mutter verlassen. Und jetzt muss ich irgendwo wohnen.«
»Nicht hier«, sagte Ben, viel zu schnell, und hasste sich dafür.
»Wo denn sonst?«, fragte John.
Auszug aus Philippa Murrays Tagebuch
Samstag, 27. 12. 2003
Ist Weihnachten schon wieder vorbei? Was habe ich davon mitbekommen? Ich sehe die Dekoration, die Lichter, die Kerzen, aber ich fühle nichts. Sonst habe ich immer irgendwann einen Punkt erreicht, an dem ich zur Ruhe kam und
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