Das zerbrochene Siegel - Roman
nahm ihre Hand. »So dürft Ihr nicht reden«, sagte sie leise. »Ihr müsst Eure Gedanken ganz auf Eure Genesung richten.«
Der Abglanz eines Lächelns huschte über das eingesunkene
Gesicht, und Garsende dachte, dass Beatrix einst eine schöne Frau gewesen sein musste. Doch die Zeit war nicht freundlich zu ihr gewesen, und nun hatte die Krankheit ihr auch noch den Rest ihres Glanzes genommen.
»Die Priester sagen etwas anderes«, flüsterte sie. »Ich muss meine Gedanken aufs Jenseits richten. In Frieden gehen.« Sie schloss die Lider.
Garsende blieb bei ihr sitzen und lauschte auf die Atemzüge, die rasselnd die Brust der Kranken verließen. Endlich wollte sie sich erheben, doch Beatrix hielt ihre Hand schwach umklammert. Sie riss die Augen wieder auf und starrte Garsende Hilfe suchend an. Irgendetwas schien sie tief zu beunruhigen.
»Ich bin da. Bitte beruhigt Euch«, sagte Garsende sanft.
»… darf es nicht länger für mich behalten«, ächzte Beatrix.
»Was wollt Ihr sagen? Möchtet Ihr, dass ich Euch einen Priester holen lasse?«
»Bitte! Nein. Ich darf nicht säumen«, keuchte sie. »Das Siegel! Er hat das Pergament gestohlen …«, mühsam rang sie nach Luft, »… ein schlechter Mensch. Ich muss davon sprechen.«
Heilige Jungfrau! Sie sprach über das Dokument! Bemüht, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen, beugte sich Garsende über Beatrix. »Was soll ich sagen? Und wem soll ich es sagen?«
»Es war falsch.« Mit einem Seufzen hielt Beatrix inne, um Luft zu schöpfen. »Man hat Philipp getäuscht«, gelang es ihr zu formulieren. »Geliebter …«
Hinter Garsendes Rücken machte sich jemand mit einem lauten Räuspern bemerkbar. Garsende fuhr erschrocken herum. In ihrem Bestreben, kein Wort zu versäumen, hatte sie nicht bemerkt, dass die Tür aufgegangen war.
Auf der Schwelle stand Schwester Walburga.
Ärgerlich starrte Garsende auf die Tür, die die Infirmarin nach ihrem kurzen Besuch wieder leise hinter sich geschlossen hatte. Sie sei gekommen, um die Heilerin zu fragen, ob sie etwas benötige, hatte Schwester Walburga erklärt, während sie ihren Blick auf Beatrix geheftet hielt. Die Kranke war zurückgesunken und hatte die Augen geschlossen.
Verwundert über die unerwartete Fürsorge, hatte Garsende sich bedankt und gemeint, augenblicklich sei sie mit allem versorgt, was sie brauchte.
»Ich wünsche umgehend unterrichtet zu werden, wenn es der Kranken wieder besser geht«, hatte die Infirmarin im Befehlston gesagt, ohne ihre Augen von Beatrix zu nehmen. Dann war sie wieder gegangen.
Die kurze Unterbrechung hatte jedoch genügt, um Beatrix wieder in ihren Fieberschlaf gleiten zu lassen.
Falls die Nonne beabsichtigte, sie am Sprechen zu hindern, hätte sie keinen trefflicheren Zeitpunkt wählen können, fuhr es Garsende durch den Kopf. Gleich darauf zog sie eine Grimasse.
»Du hast Hirngespinste«, schalt sie sich laut. Wie hätte die Schwester denn wissen können, dass Beatrix zu sich gekommen war? Sie hatte leise gesprochen. Von draußen durch die Tür hätte man ihre Worte ganz gewiss nicht hören können.
Und selbst, wenn die Infirmarin schon eingetreten war und Beatrix zugehört hatte, was in aller Welt wollte sie damit anfangen?
»Wirklich, allmählich siehst du Gespenster«, murmelte Garsende, während sie Beatrix’ schweißnasse Stirn abtupfte.
›Und was soll ich nun damit anfangen?‹, überlegte sie und seufzte. Sie zweifelte keinen Moment daran, dass Beatrix von jenem Schriftstück gesprochen hatte, von dem
der Burggraf überzeugt war, dass es zwei Menschenleben gekostet hatte. Und auch Beatrix selbst schien es so wichtig zu sein, dass sie dem Gedanken ihr eigenes Seelenheil unterordnete.
Offenbar wusste sie noch, dass Ulbert ihr das Dokument entwendet hatte, doch wer war Philipp, und wer hatte ihn getäuscht? Ein ums andere Mal kreisten die Fragen in Garsendes Kopf und ließen sie nicht los, bis Schwester Lukas zurückkehrte, um sie am Lager der Kranken abzulösen.
Nachdem die Heilerin ihre Schutzbefohlene bei der jungen Nonne in guten Händen wusste, machte sie sich auf den Weg zu einem niedrigen Gebäude neben dem Hospiz, in dem eigens für die Gäste, Pilger und auch die Kranken gekocht wurde.
Die Kost war in der Regel einfach, zumal in der Fastenzeit, doch schmackhaft zubereitet, und als Garsende eintrat, empfing sie der Geruch nach gesottenem Fisch, frisch gebackenem Brot und mit allerlei Kräutern gewürztem Hirsebrei.
Die Nonne, die mit Hilfe
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