Das zerbrochene Siegel - Roman
Kirche aufgehalten hatte, bestand nur ein geringes Wagnis, von jemandem dabei beobachtet zu werden. Zumal weder der Mönch noch die Infirmarin Verdacht erregt hätten, wäre man ihnen hier begegnet.
Garsende seufzte. Das ergibt nur alles keinen Sinn, dachte sie. Zur Not konnte sie sich noch vorstellen, dass Bruder Kilian, der bei Hof verkehrte, in irgendeiner Weise mit dem verschwundenen Schriftstück zusammenhing, von dem der Burggraf glaubte, es sei das, worum sich alles drehte. Er mochte einen Grund haben, zum Mörder zu werden. Doch welchen Grund hätte die Infirmarin? Und ebenso wenig wie der Burggraf sich Serafina mit dem Schwert in der Hand vorzustellen vermochte, konnte sie es bei Schwester Walburga. Keine der beiden Frauen konnte Beatrix’ Gatten umgebracht haben. Nein, wenn Frauen mordeten, bedienten sie sich gewöhnlich doch anderer Waffen.
Plötzlich kniff Garsende die Augen zusammen. Arnold war durch einen Schwertstreich gestorben. Doch Ulbert von Flonheim nicht! Deutlich noch stand ihr die Wunde vor Augen, die sie an seiner Leiche entdeckt, und hörte im Geist, was sie dem Burggrafen gesagt hatte. »Ich besitze selbst ein Werkzeug mit einer so schmalen Klinge.«
Besaß auch das Hospiz des Klosters ein solches Werkzeug? Und wenn es so war, wäre es für die Infirmarin, die sich tagtäglich im Hospiz aufhielt, nicht ein Leichtes gewesen,
die Klinge an sich zu nehmen und wieder zurückzulegen, bevor jemand sie vermisst hätte?
Mit einem scharfen Laut auf den Lippen fuhr Garsende zu Schwester Lukas herum. Doch die junge Nonne schien bereits wieder in ihr Gebet vertieft und hatte sie offenbar nicht gehört. Einen Moment lang erwog Garsende, ihr Gebet zu unterbrechen und sie nach einem Werkzeug mit schmaler Klinge zu fragen. Doch dann ließ sie es sein. Sie würde selbst im Hospiz danach fragen, sobald sich eine Gelegenheit böte.
Mit einem schiefen Lächeln dachte Garsende, dass sie nicht geglaubt hätte, wie bald ihr der Burggraf schon wieder willkommen sein würde. Doch angesichts dessen, was geschehen war, erschien ihr der Streit mit ihm nachgerade lächerlich.
Als die Glocken zur Komplet läuteten, erklärte Garsende, Schwester Lukas könne unbesorgt zum Gottesdienst gehen. Doch die junge Nonne weigerte sich, von Beatrix’ Seite zu weichen. Die Ehrwürdige Mutter habe ihr Dispens erteilt, und sie würde ihre Pflicht erfüllen. Im Gebet harrte sie tapfer an Beatrix’ Seite aus, als ihr kurz vor Mitternacht doch die Augen zufielen. Garsende ließ sie schlafen, bis die Schwester kurz nach der Matutin von selbst wieder erwachte. Schließlich spürte auch die Heilerin, wie die Müdigkeit nach ihr griff und ihr das Denken schwer machte. Schon in den letzten Nächten hatte sie nur wenig geschlafen. Als Beatrix’ eingefallene Züge immer mehr vor ihren Augen verschwammen und sie mit einem Mal gar das Gesicht ihres Liebsten darin sah, wusste sie, dass sie ihrem Körper seinen Tribut zollen musste. Nachdem Schwester Lukas ihr versichert hatte, sie würde die Heilerin umgehend wecken, sollte sich an Beatrix’ Zustand auch nur das Geringste ändern, legte Garsende sich nieder.
Zuerst wollte der Schlaf überhaupt nicht kommen, dann glitt sie in einen unruhigen Schlummer, und wirre Träume schreckten sie immer wieder auf. Bald war es ein gesichtsloser Meuchler, der sie mit einem Dolch bedrohte; bald war es Lothar, der sich vor ihren Augen auflöste, als sie sich an ihn schmiegen wollte, und schließlich war es ein Mönch, der mit gezücktem Schwert vor ihr stand.
Kurz vor der Prim hatte Garsende genug von ihren Träumen und stand auf.
Es schien ihr unnötig, Schwester Lukas noch länger in ihrem gewohnten Tagesablauf zu stören. Für Beatrix konnte man ohnehin nichts weiter tun, als bei ihr zu sitzen und zu warten. So drängte Garsende die Nonne, sich dem Morgengebet ihrer Mitschwestern in der Kirche anzuschließen, und dieses Mal gab Schwester Lukas nach.
Nachdem sie den Raum verlassen hatte, träufelte Garsende erneut ein wenig gelöschten Wein auf Beatrix’ Lippen, doch die rote Flüssigkeit sammelte sich nur in ihren Mundwinkeln und rann ihr Kinn hinab, ohne dass die Kranke sich gerührt hatte. Allein am kaum wahrnehmbaren Heben und Senken ihrer Brust konnte man erkennen, dass sie überhaupt noch atmete. Mit einem tiefen Seufzen stand Garsende auf und stellte den Becher auf der Bank ab, als sie plötzlich ein schwaches Geräusch vernahm. Erschrocken drehte sie sich um.
Ein Fauchen und
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