Das zerbrochene Siegel - Roman
gekommen waren, lag der Gedanke nah, dass es vielleicht auch zwei Meuchler gab. Zwei Männer, die ein und dasselbe wollten: das Testament. Zuerst war es in Beatrix’ Besitz gewesen, und nachdem, was Prosperius ihm berichtet hatte, war Bandolf überzeugt davon, dass sie den brisanten Inhalt des Schriftstücks kannte. Die Art, wie Arnolds Gattin sich von der heimatlichen Hufe davongemacht hatte, sah verdächtig nach einer Flucht aus. Und vor wem konnte Beatrix geflohen sein, wenn nicht vor ihrem Gatten?
»Aber warum nahm sie das Dokument mit sich?«, überlegte Bandolf laut. »Sie muss gewusst haben, dass Arnold, schon um des Testamentes willen, nicht ablassen würde, sie zu suchen.«
Der Klang seiner Stimme ließ Penelope in ihrer Arbeit innehalten. Einen Augenblick lang sah sie den Burggrafen aufmerksam an, bevor sie sich wieder der Säuberung ihres Fells zuwandte. Unbeirrt fuhr sie in ihrem Tun fort, als er weitersprach: »Ulbert stahl das Dokument, und von ihm ging es in Bruder Bartholomäus’ Hände über, noch bevor der junge Edelmann starb. Ulberts Mörder konnte nicht gewusst haben, dass er das Testament nicht mehr bei sich hatte, sonst wäre Ulbert vermutlich noch am Leben.«
Und das wiederum traf auf Arnold von Clemante zu. Er hatte nicht gewusst, wo sich das Dokument befand, als er am Tag nach Ulberts Tod dessen Gattin Annalinde darum anging. Sie schickte ihn zu Bruder Bartholomäus. Doch der Domherr hatte sich bereits aus dem Staub gemacht.
»So weit, so gut«, murmelte Bandolf.
Doch wenn Arnold Ulberts Mörder gewesen war, wer hatte dann Arnold getötet? Und aus welchem Grund? Hatte der Mann die Stadt doch verlassen, ohne im Besitz des Dokuments zu sein!
Um ihn sich vom Hals zu schaffen, hatte Annalinde ihm erzählt, dass das Schriftstück in Bruder Bartholomäus’ Besitz war. Vielleicht hatte Arnold gewusst, wohin der Domherr geflohen war, und war ihm gefolgt? Bartholomäus wiederum mochte bemerkt haben, dass Arnold hinter ihm her war, und hatte ihn darum getötet. Doch da lag auch der Hund begraben. Wer immer Arnold auch getötet haben mochte, es musste derselbe gewesen sein, der Bandolf im Wald angegriffen hatte. So viel schien festzustehen. Beim besten Willen jedoch konnte der Burggraf die schmächtige Gestalt, die ihm von dem unscheinbaren Domherrn in Erinnerung war, nicht mit seiner Vorstellung des Mannes in Einklang bringen, der ihn niedergerungen hatte.
Penelope hatte ihre Fellpflege beendet und sich auf der Mauer eingerollt. Schläfrig blinzelte sie Bandolf an.
»Arnolds Mörder muss ein anderer gewesen sein«, teilte der Burggraf ihr mit.
Gänzlich uninteressiert schloss die Domkatze die Augen.
»Du könntest wenigstens ein bisschen Anteilnahme an meiner misslichen Lage zeigen«, beschwerte sich Bandolf. Penelope rührte sich nicht, und Bandolf seufzte.
Langsam ließ er die drei Männer, die seinen Verdacht erregt hatten, vor seinem inneren Auge vorbeiziehen: Bruder
Kilian, Lothar von Kalborn und Raoul de Saint Rémy. Jeder von ihnen mochte den Inhalt des Schriftstücks kennen. Und jeder der drei schien in der Lage zu sein, seiner mit allen Mitteln habhaft zu werden.
Der Burggraf holte tief Luft. »Mein Kreuz ist, dass ich mit meinem Finger nicht auf einen meiner drei Freunde zeigen kann«, sagte er. »Der Schlüssel ist das Testament. Kenne ich seinen genauen Wortlaut, werde ich auch wissen, auf wen ich deuten muss.«
Ruckartig hob Penelope den Kopf und spähte aufmerksam in Richtung des Tors. Ihre Ohren zuckten. Mit zusammengekniffenen Augen folgte Bandolf ihrem Blick und sah, wie sich eine gebeugte Gestalt am Tor zu schaffen machte. Das musste Egin sein. Hatte jemand an die Pforte geklopft?
Der Burggraf stand auf. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Penelope von der Mauer sprang, als er sich auf den Weg zum Tor machte, um nachzusehen, wer zu nachtschlafender Zeit bei ihm Einlass verlangte. Die Pforte öffnete sich einen Spalt, und eine dünne Gestalt schlüpfte an Egin vorbei. Stirnrunzelnd blieb Bandolf stehen, als er die junge Hausmagd seiner Gattin erkannte.
Offenkundig hatte Hildrun es eilig, ins Haus zu kommen. Ohne sich auch nur einmal umzusehen, flitzte sie zur Haustür. Als Bandolf ihr in den Weg trat, blieb sie wie vom Blitz getroffen stehen und starrte ihn mit schreckgeweiteten Augen an. »Wo, zum Teufel, hast du dich herumgetrieben?«, donnerte der Burggraf.
»Es ist nicht so, wie’s aussieht, Herr«, stieß Hildrun mit dünnem Stimmchen hervor. »Ich hab nichts
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