Das zerbrochene Siegel - Roman
einem Vorwand Zutritt zum Kloster verschafft haben«, beharrte die Heilerin. »Ein Mönch vielleicht, um …«
»Nun ist es genug!«, erklärte die Ehrwürdige Mutter scharf. »Fragen müssen gewiss gestellt werden. Doch das ist meine Aufgabe, allenfalls noch die des Burggrafen. Bestimmt aber nicht deine.«
Mit einer raschen Geste unterband sie jeden weiteren Einwand, den Garsende vielleicht noch haben mochte. »Schwester Synesia wird uns sagen können, wer heute das Kloster betreten und wieder verlassen hat. Zudem werde ich einige Hörige abstellen, die das Gelände nach eventuellen Eindringlingen absuchen sollen. Schwester Lukas soll die Nacht über mit dir bei der Kranken wachen. Zur Prim wird Schwester Walburga sie ablösen. Und falls es nötig ist, erteile ich beiden Dispens, dem Gottesdienst fernbleiben zu dürfen.«
Beim Namen der Infirmarin war Garsende zusammengezuckt.
»Dazu besteht keine Notwendigkeit«, sagte sie hastig. »Ich werde Beatrix nicht mehr von der Seite weichen.«
»Wie du willst.« Die Ehrwürdige Mutter warf noch einen letzten Blick auf Beatrix. »Heute Nacht werden wir alle für sie beten«, sagte sie und verließ die Zelle ebenso leise, wie sie gekommen war.
Wie die Äbtissin angekündigt hatte, kam Schwester Lukas gleich nach der Vesper in Beatrix’ Zelle. Die Augen der jungen Nonne waren gerötet, als hätte sie geweint.
»Die Ehrwürdige Mutter hat uns gesagt, was geschehen ist«, flüsterte sie mit brüchiger Stimme. »Wie geht es ihr?«
»Nicht gut«, antwortete Garsende wahrheitsgemäß. Sie seufzte schwer. »Ihr Leib war völlig unterkühlt. Ich habe einen Karfunkel auf ihren Nabel gelegt. Normalerweise bedarf es nur kurzer Zeit, bis der Körper sich davon erwärmt, aber …« Sie verstummte.
»Können wir denn sonst gar nichts für sie tun?«
»Sie liegt in tiefer Ohnmacht«, sagte Garsende leise. »Wir können nur versuchen, sie warm zu halten.«
Schwester Lukas sank neben der Bettstatt auf die Knie. Ihr rundliches Gesicht war fast so blass wie das der Kranken, jede Fröhlichkeit war daraus verschwunden. »Es ist meine Schuld«, wisperte sie mit einem verzweifelten Blick auf Beatrix’ wächserne Züge. »Ich hätte sie nicht verlassen dürfen. Ich hätte auf deine Rückkehr warten müssen, dann wäre das alles nicht passiert.«
Garsende, die sich mit ähnlichen Gedanken quälte, seit die Äbtissin sie verlassen hatte, schüttelte den Kopf. »Dann hätte der Meuchler eine andere Möglichkeit gefunden, sein Werk zu tun«, erklärte sie fest. Oder du wärst nun ebenfalls tot, dachte sie und kämpfte mit einem Kloß, der hartnäckig in ihrer Kehle saß.
Schwester Lukas blickte auf. »Glaubst du?« Ein Hauch Farbe kehrte in ihre Wangen zurück, und ihr Gesicht erhellte sich. »Ich werde für sie beten.«
Traurig sah Garsende zu, wie die Schwester die Hände faltete, und unterdrückte ein Seufzen. Mochte die junge Nonne ihr Vertrauen in den Herrn legen, sie konnte es nicht. All ihre Versuche, Beatrix aus der tiefen Ohnmacht zurückzuholen, waren gescheitert, und all ihre Erfahrung sagte ihr, dass niemand mehr etwas für sie tun konnte. Gewiss, die Aussichten, dass sie überhaupt je genesen würde,
waren nie sehr gut gewesen, doch vor diesem Anschlag hatte es immerhin Hoffnung gegeben.
Jetzt habe ich den Kampf verloren, dachte Garsende, und in ihre Traurigkeit mischte sich Zorn. Wer nur hatte Beatrix dieser Hoffnung beraubt?
Unwillkürlich war ihr erster Verdacht auf Serafina gefallen, doch offenbar hatte sie sich in ihr getäuscht. Mochte die Neugier, die sie bezüglich der Vorfälle gezeigt hatte, auch augenfällig gewesen sein, so schien es, als müsste man sie der Langeweile zuschreiben, die eine junge Frau überfallen konnte, wenn sie in einem Kloster auf die Weiterreise wartete. Fest stand, dass Serafina die Vesper mit den Nonnen begangen und keine Möglichkeit gehabt hatte, den Anschlag auf Beatrix zu verüben. Doch wer war es dann gewesen?
Da Lothar wieder in der Stadt ist, wird der Burggraf auch ihn verdächtigen, dachte Garsende und unterdrückte ein Seufzen. Sie verstand wohl, dass der Burggraf ihren Geliebten in Verdacht hatte. Lothar war selten anzutreffen gewesen und konnte um ihretwillen auch keine Rechenschaft über seinen Aufenthalt ablegen. Und sie konnte dem Burggrafen ebenso wenig sagen, wie oft der Edelmann seine Zeit mit ihr verbracht hatte. Der Burggraf hatte sich schwer genug damit getan, Garsendes Handwerk zu billigen, und auch heute noch
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