Das zerbrochene Siegel - Roman
spürte sie sein gelegentlich aufflackerndes Misstrauen gegenüber ihrem Tun. Da würde er ihre ungebotene Verbindung mit Lothar kaum gutheißen.
Für einen Augenblick gestattete Garsende sich auszumalen, was geschehen würde, wenn Lothar ernsthaft in Verdacht geriete. Würde sie dann nicht bezeugen müssen, wann er bei ihr gewesen war? Heilige Maria Muttergottes! Dann wäre ihr Leumund unwiderruflich dahin. Hastig schob Garsende den Gedanken von sich. Um ihretwegen ebenso wie um Lothars willen musste der Meuchler gefunden werden!
Der burgundische Edelmann, den der Burggraf erwähnt hatte, kam ihr in den Sinn. War es ihm gelungen, unbemerkt ins Kloster einzudringen? Aber wie hätte er wissen können, dass Beatrix just zu dieser Zeit allein in ihrer Zelle war? Vielleicht hat er nur Glück gehabt, dass sie just allein gewesen ist. Womöglich hätte meine oder Schwester Lukas’ Anwesenheit auch gar nichts verhindert, und er hätte jeden getötet, der seinem Ziel im Wege war, überlegte Garsende und spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Doch hätte ein solcher Meuchler nicht auch ein geeignetes Tatwerkzeug mitgebracht?
Und wie stand es mit Bruder Kilian? Als Mönch hätte er sich ganz offen Zutritt zum Kloster verschaffen und sich unter einem Vorwand für einige Zeit allein darin aufhalten können.
»Könnten wir nicht ihre Lippen benetzen, wie wir es zu Anfang taten?«, fragte Schwester Lukas in ihre Gedanken. Offenbar hatte sie ihr Gebet beendet.
»Es hätte keinen Sinn, sie spricht nicht mehr darauf an«, erwiderte Garsende, die es selbst schon versucht hatte. Dann fragte sie: »Wisst Ihr, ob heute ein Fremder im Kloster war?«
Nachdenklich neigte Schwester Lukas den Kopf. »Außer der Pilgergruppe, die Schwester Synesia ins Gästehaus begleitete, als sie deine Hilferufe hörte, ist heute niemand angekommen. Ich hörte, dass Bruder Kilian uns besucht hat, aber Bruder Kilian ist ja kein Fremder.«
Überrascht schnappte Garsende nach Luft. »Bruder Kilian war schon öfter im Kloster?«
»Aber ja«, antwortete Schwester Lukas mit einem Lächeln. »Du musst wissen, dass Schwester Walburga die Nichte des Erzbischofs von Bremen ist. Sie war zutiefst betrübt, als sie erfuhr, was sich Anfang des Jahres bei Hof ereignet hat, und machte sich Sorgen um ihren Oheim. Es
war eine große Erleichterung für sie, als Bruder Kilian sie aufsuchte, um Grüße von Seiner Eminenz zu überbringen. Hernach war er einige Male hier.«
»Auch heute?«, vergewisserte sich Garsende.
»Ich selbst habe ihn nicht gesehen, aber Schwester Agatha, unsere Bibliothekarin, hat davon gesprochen. Wie es scheint, wird Bruder Kilian in Bälde am Hof zurückerwartet. Sie fand es schade, dass Schwester Walburga keine Gelegenheit gehabt hat, noch einmal mit ihm zu sprechen.«
»Wann ist Bruder Kilian denn hier gewesen?«, erkundigte sich Garsende und hoffte, die Nonne würde ihre Anspannung nicht bemerken.
»Das weiß ich nicht. Es muss aber nach der Sext gewesen sein, da sich Schwester Walburga erst nach dem Mittagsmahl ins Dormitorium zurückgezogen hat.«
»Sie hat sich zurückgezogen?«
»Schwester Walburga leidet hin und wieder unter starkem Kopfschmerz. Wenn sie einen solchen Anfall hat, hilft ihr nur, sich still auf ihre Bettstatt zu legen«, erklärte die junge Nonne. Ihre Stimme klang voller Mitgefühl. »Manchmal dauert es Tage, bis sie sich wieder erholt.«
»Dann war sie heute auch nicht zur Vesper in der Kirche?«
»Nein«, bestätigte Schwester Lukas. Sie schien nicht zu bemerken, worauf Garsendes Fragen abzielten, und offenbar war ihr auch noch nicht in den Sinn gekommen, jemand aus ihrer Gemeinschaft könnte etwas mit dem schrecklichen Vorfall zu tun haben.
Für einen Augenblick beneidete Garsende die junge Nonne um ihr bedingungsloses Vertrauen. Dann wandten sich ihre Gedanken wieder dem Verbrechen an Beatrix zu.
Da Garsende niemand entgegengekommen war, als sie nach ihrem Disput mit dem Burggrafen die Treppe zum Gästehaus
hochgegangen war, musste der Anschlag passiert sein, nachdem sie kehrtgemacht hatte, um zur Kirche zu gehen. Der Mönch und Schwester Walburga hätten beide Garsendes Disput mit dem Burggrafen beobachten können, ebenso, wie Schwester Lukas und später sie selbst das Gästehaus verließen. Es konnte auch nicht mehr als nur wenige Augenblicke gedauert haben, um Beatrix die Decken vom Leib zu reißen, den Verschlag zu öffnen und Wasser über sie zu schütten. Und da sich fast jedermann in der
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