Das zerbrochene Siegel - Roman
die Stimme der Pförtnerin, die wissen wollte, wer da einen solchen Lärm gemacht hatte. Abrupt verstummte sie. Als Garsende sich umdrehte, sah sie Schwester Synesia entgeistert auf Beatrix’ nackten Leib starren.
»Ihr müsst auf der Stelle die Äbtissin holen«, rief sie. »Rasch!«, fügte sie hinzu, als die Nonne sich noch immer nicht rührte. Endlich machte die Pförtnerin kehrt und hastete davon.
So schnell sie konnte, trocknete Garsende Beatrix mit ihrem Gewand ab und packte sie in alle Felle und Decken ein, die noch trocken waren.
Im Raum war es immer noch sehr kalt. Doch als Garsende die Glut im Kohlebecken schüren wollte, sah sie, dass der Meuchler auch hier zu Werke gegangen war. Die Kohle war durchtränkt, der Wasserkübel stand leer daneben.
Elend vor Wut sank Garsende neben Beatrix auf den Boden und sah in ihr totenbleiches Gesicht, das in den Fellen nahezu verschwand.
»Wer hat dir das nur angetan?«, flüsterte sie.
»Was ist so wichtig, dass ich die Vesper unterbrechen musste?«, fragte die Äbtissin und schloss leise die Tür hinter sich. Offenbar war sie allein gekommen.
Garsende schilderte ihr, wie sie Beatrix vorgefunden hatte. »Wer immer das tat, hat sie zum Tode verurteilt«, endete sie.
Skeptisch runzelte die Ehrwürdige Mutter die Stirn, während sie sich in der Zelle umsah.
»Das ist eine schwere Anschuldigung«, sagte sie.
»Ihr glaubt mir nicht?«
»Ich glaube dir. Doch könnte das, was du gesehen hast, nicht auch ein Versehen gewesen sein?«
»Ein Versehen?« Garsende schnaubte. »Wer würde versehentlich eine Schwerkranke ihrer Decken entblößen, Wasser über sie gießen, die Glut im Kohlebecken löschen und dann noch den Fensterverschlag weit aufreißen?«
Die Ehrwürdige Mutter schüttelte schweigend den Kopf, während sie an Garsendes Schlafstatt trat, worauf man Beatrix mittlerweile gebettet hatte. Mitleidig schaute sie auf die Kranke hinab.
»Wenn jemand beabsichtigte, Beatrix von Teveno zu töten, warum wählte er nicht eine Art, die sofort zum Tode führt?«, wandte sie schließlich ein. »Eine Kranke mit Wasser zu übergießen und sie der Kälte auszusetzen, erscheint mir unsinnig.«
Garsende stellte sich neben sie und blickte ebenfalls auf Beatrix’ bleiches Gesicht hinunter. »Womöglich war just nichts anderes zur Hand«, meinte sie mit unwillkürlich gedämpfter Stimme. »Er oder sie nutzte die kurze Spanne, die
Beatrix allein in ihrer Zelle war. Schwester Lukas verließ die Kranke erst, als die Glocken zur Vesper läuteten, dessen bin ich mir gewiss. Und, wer immer es war, konnte nicht ahnen, wann ich in die Zelle zurückkehren würde. Es blieb für den Meuchler nur wenig Zeit zum Handeln.« Sie seufzte. »Es war meine Schuld. Ich hätte umgehend zurückkehren müssen, als ich die Glocken hörte. Ich wusste, dass Schwester Lukas zum Gottesdienst gehen würde.«
Die Äbtissin warf ihr einen forschenden Blick zu. Dann senkte sie den Kopf und faltete die Hände. Garsende hatte den Eindruck, sie spräche mit sich selbst, als sie sagte: »Der Herr gibt uns immer die Wahl. So gesehen, trüge auch Schwester Lukas Schuld. Sie hätte die Buße für ihr Zuspätkommen auf sich nehmen und auf dich warten können. Und nicht zuletzt ich selbst trüge Schuld daran, da ich die Warnung des Burggrafen nicht ernst genug genommen habe. Wem soll man die Schuld geben? Demjenigen, der das Verbrechen verübt hat, oder uns, die wir ihm Gelegenheit dazu gaben?«
Garsende, der nicht der Sinn nach derlei Betrachtungen stand, schüttelte ungeduldig den Kopf. »Ihr müsst den Burggrafen benachrichtigen«, forderte sie.
Die Ehrwürdige Mutter hob den Kopf und straffte sich. »Gewiss. Gleich morgen früh werde ich einen Boten zu ihm schicken.«
»Aber bis dahin könnte sich der Meuchler bereits davongemacht haben«, wandte Garsende ein.
»Es ist dunkel draußen. Ich wüsste nicht, was der Burggraf heute noch ausrichten sollte.«
»Er könnte feststellen, wo sich jedermann zum besagten Zeitpunkt aufgehalten hat.«
»Du willst doch nicht behaupten, eine meiner Schwestern hätte mit diesem Vorfall irgendetwas zu schaffen?«
»Im Kloster halten sich nicht nur Eure Nonnen auf«,
meinte Garsende und wich dem strengen Blick der Äbtissin aus. »Wo waren Eure Gäste? Wo war Serafina von Asti, als der Anschlag auf Beatrix verübt wurde?«
»Herrje, was ficht dich an? Sie war mit uns in der Kirche, wie die meisten anderen unserer Gäste auch.«
»Jemand könnte sich auch unter
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