Das zerbrochene Siegel - Roman
sich schon sein halbes Leben lang mit Schriften jeglicher Art. Er mochte mehr aus dem Stückchen Pergament erfahren als der Burggraf.
Der Scholasticus hatte es jedoch eilig. Kaum hatte Bandolf ihm das Stück Pergament überreicht mit der Bitte, es für ihn zu entziffern, als die Glocken des Doms den Bruder in die Kirche riefen. Die Domherren wollten für die baldige Genesung des Königs beten. »Wollt Ihr mich nicht zur Messe begleiten?«, lud ihn Goswin ein, doch Bandolf lehnte ab.
Die schwere Erkrankung des Königs erforderte andere Maßnahmen von ihm als seine Fürsprache vor dem Allmächtigen, und bevor er sich diesen Verpflichtungen widmete, gedachte Bandolf noch einen anderen Faden zu entwirren, der mit Ulberts Tod zu tun hatte. Der Beutel mit
den Silbermünzen, die er bei der Leiche gefunden hatte, lag noch immer wohlverwahrt in der Tasche seines Mantels. Es wurde Zeit, dass er herausfand, was es damit auf sich hatte.
Nachdem er den Pfalzhof überquert und die Diebsgasse hinter sich gelassen hatte, bemerkte der Burggraf, dass die Nachricht vom schlechten Befinden des Königs bereits die Runde durch die Stadt machte. Wie in der Bischofspfalz standen auch auf dem Marktplatz kleine Grüppchen bedrückter Menschen beisammen, spekulierten und tauschten ihre Ängste aus. Nach jedem zweiten Schritt musste Bandolf stehenbleiben, um die immer gleichen Fragen zu beantworten, auf die er selbst keine Antwort wusste.
»Burggraf! Wisst Ihr, wie es um den König steht?«
»Habt Ihr Neuigkeiten aus Lorsch?«
»Woran ist der König erkrankt, Herr? Ist es die Pest? Die Cholera?«
»Wird der König wieder genesen, Burggraf?«
Im Stillen teilte er die Sorgen seiner Schutzbefohlenen.
König Heinrich würde keinen Erben hinterlassen, und in Heinrichs Rücken standen gut und gerne ein halbes Dutzend Fürsten parat, die alle auf die eine oder andere Weise Anspruch auf seinen Thron würden geltend machen können. Falls sie sich nicht einig werden konnten, wer von ihnen das Zepter erhalten sollte, würde die Stärke ihrer Heere und ihr Geschick in der Schlacht darüber entscheiden. Der Krieg wäre so unvermeidlich wie die Strafe Gottes.
Auch Bandolfs eigenes Schicksal war ungewiss, wenn der König starb. Daran gab es nichts zu deuteln. Und als er auf der Brotgasse auch noch in einen Kuhfladen trat, der so frisch war, dass er dampfte, hatte seine Stimmung ihren Tiefpunkt erreicht. Gab es wohl noch ein schlechteres Omen?
»Ich stinke wie ein Iltis!«, knurrte Bandolf ärgerlich.
Während er leise vor sich hin fluchend den Kot mit Hilfe eines Zweiges abschabte, fragte er sich, ob der Unrat nur an seinen Stiefeln klebte oder ob er bereits bis zum Hals darin festsaß.
Er hatte sich Feinde unter den Fürsten gemacht, und wenn einer von ihnen König würde, wären seine Tage als Burggraf ohnehin gezählt. Gleichgültig, ob er sich von jeglichem Verdacht reinwaschen konnte oder nicht.
Für einen Augenblick war er geneigt, die Suche nach Ulberts Mörder aufzugeben.
Aber noch lebte der König, und was der Morgen bringen würde, lag in Gottes Hand.
Bandolf holte tief Luft, um seine Niedergeschlagenheit zu vertreiben, schleuderte den Zweig weit von sich und setzte seinen Weg fort.
Der ohrenbetäubende Lärm des Schmelzofens und der Walze, das Hämmern und Schlagen der Münzer und die Gerüche nach Metall und scharfen Beizen drangen ungehemmt auf die Gasse, als der Burggraf die Tür öffnete und aus der Werkstätte heraustrat.
Auf der gegenüberliegenden Seite stand der Falke in einem schmalen Durchlass. Geduldig verharrte er auf seinem Platz, bis der Burggraf ein gutes Stück die Gasse hinuntergegangen war.
Just schickte er sich an, seine Deckung zu verlassen, als er plötzlich stutzte. Mit schmalen Augen beobachtete er, wie eine Gestalt, das Gesicht hinter einer Kapuze verborgen wie er selbst, am anderen Ende der kleinen Gasse verstohlen um die Ecke bog, sich hastig nach links und rechts umschaute, um dann eilig denselben Weg einzuschlagen, den auch der Burggraf genommen hatte.
An sich war es nicht von Bedeutung, wenn jemand denselben Weg hatte wie Bandolf von Leyen, aber es war
heute bereits das zweite Mal, dass diese Gestalt seinen Weg - und den des Burggrafen - kreuzte. Der Falke glaubte an Bestimmung. Nicht aber an Zufälle. Alarmiert runzelte er die Stirn. War außer ihm noch jemand am Tun und Lassen des Burggrafen interessiert? Womöglich aus demselben Grund wie er?
Die Hand des Falken glitt an seinen Gürtel, an dem
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