Das zerbrochene Siegel - Roman
wird auch der Bischof bald einen Boten mit der Kunde schicken. Einstweilen
habe ich alle Hände voll zu tun, um die Gemüter zu beruhigen.«
»Woran ist der König erkrankt?«
»Das wussten die Pilger nicht genau. Es war von der Cholera die Rede. Ein anderer meinte, er sei vom Fleckfieber befallen.«
Bandolf seufzte. »Ich werde veranlassen, dass die Wachen an den Stadttoren verstärkt werden«, erklärte er.
»Glaubt Ihr, dass das nötig ist?«
»Allerdings«, meinte Bandolf. Man konnte nie wissen, was den Nachbarn einfallen würde, sollte sich die Nachricht von der schweren Krankheit des Königs bewahrheiten. Ein geschwächter Herrscher bedeutete ein geschwächtes Reich. Und ein geschwächtes Reich war wie eine Einladung an sämtliche Aasfresser, die sich an einem gefallenen Riesen zu laben gedachten.
Schließlich kam Bandolf auf den eigentlichen Zweck seines Besuches zurück und fragte nach Lothar von Kalborn. Doch auch dieses Mal hatte er kein Glück. Der Edelmann war nicht in seinem Quartier.
»Was macht der Mann eigentlich in Worms?«, fragte Bandolf verärgert. Der Vogt zuckte gleichgültig mit den Schultern und meinte, das müsse der Burggraf den Herrn schon selbst fragen.
Über Raoul de Saint Rémy wusste er kaum mehr zu sagen. Der burgundische Edelmann sei einen Tag vor dem Frühlingsfest in Worms eingetroffen. Er habe ein Schreiben des Bischofs von Metz bei sich gehabt, der sich für Raouls guten Leumund verbürgte. Schreiben dieser Art waren nicht ungewöhnlich für einen Reisenden und pflegten ihm die Aufnahme in der Fremde zu erleichtern.
»Hat der Graf erwähnt, warum er in Worms Aufenthalt genommen hat und nicht in Lorsch?«, wollte Bandolf wissen.
Nachdenklich runzelte der Vogt die Stirn. »In der Tat meinte er, die Pfalz zu Lorsch sei ihm allzu überfüllt mit Hofnarren. Da hielte er sich lieber an einem Ort auf, an dem er nicht auf Schritt und Tritt über einen solchen stolpern würde.«
Wider Willen musste Bandolf grinsen. »Hatte er Besuch, seit er hier ist?«, fragte er dann.
Der Vogt verneinte, und auch auf Bandolfs Frage, ob Raoul den einen oder anderen Namen von Freunden erwähnt hätte, die er besuchen wollte, schüttelte er den Kopf. »Überhaupt scheint er mir nicht sehr gesellig zu sein«, meinte er. »Gewiss hätte er sonst das Frühjahrsbankett nicht versäumt, obgleich er natürlich eingeladen war.«
Bandolf merkte auf. »Wollt Ihr damit sagen, der Burgunder hat sich in der Nacht des Frühlingsfestes nicht in der Pfalz aufgehalten?«
»Ob er in der Nacht wieder hier war, kann ich Euch wirklich nicht sagen, aber zur Sext habe ich ihn auf dem Pfalzhof gesehen. Er bestieg just sein Pferd. Auf dem Bankett war er jedenfalls nicht.«
Bandolf ersparte sich die überflüssige Frage, ob der Vogt wüsste, wohin Raoul geritten sei. Welches Ziel der burgundische Edelmann an diesem Tag auch gehabt hatte, dem Vogt hatte er es sicher nicht mitgeteilt.
»Richtet Lothar von Kalborn aus, er möchte mich aufsuchen, sobald er Euch unter die Augen kommt«, wies der Burggraf den Vogt noch an, bevor er sich verabschiedete.
Kurz darauf klopfte Bandolf an die Pforte zum Domstift.
Am Abend zuvor hatte er das Stück Pergament in Augenschein genommen, das die kranke Beatrix umklammert hatte, als sie ins Kloster gebracht worden war.
Doch obgleich Bandolf seine Buchstaben gelernt hatte und auch des Lateinischen mächtig war, halfen ihm seine
Kenntnisse hier nicht weiter. Offenbar war das Schriftstück dem Regen ausgesetzt gewesen. Die Tinte war an einigen Stellen verlaufen, und die Schrift schwer zu entziffern. Auf dem Fetzen fanden sich drei Zeilen Text, darunter schienen die Namen derer aufgelistet, die die Urkunde bezeugt hatten, und neben einem Schnörkelgebilde, das aussah wie ein Bienenstock, klebte das Bruchstück eines graugrünen Siegels. Die Jahreszahl war noch intakt, und aus dem A D MLV entnahm Bandolf, dass das Schriftstück im Jahre des Herrn 1055 ausgestellt und bezeugt worden war. Vom Text hatte Bandolf nur ein paar zusammenhängende Buchstaben entziffern können, wie nobilis, vir und honorem. Bei den Namen der Zeugen war er noch weniger erfolgreich gewesen, und schließlich hatte er es aufgegeben. Es mochte sich um eine Besitzurkunde handeln, die Schenkung an ein Kloster beinhalten, die Übereignung eines Lehens oder auch etwas gänzlich anderes sein. Um dem Fetzen mehr zu entlocken, bedurfte es größerer Kenntnisse, als er sie besaß.
Bruder Goswin hingegen beschäftigte
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