Das Ziel ist der Weg
endgültig auf: »Die Scheidung von Außen und Innen ist unserm Denken gewohnt, ist ihm aber nicht notwendig. Es gibt die Möglichkeit für unseren Geist, sich hinter die Grenze zurückzuziehen, die wir ihm gezogen haben, ins Jenseits. Jenseits der Gegensatzpaare, aus denen unsere Welt besteht, fangen neue, andere Erkenntnisse an«, so erneut Hermann Hesse.
Der Jakobsweg von Conques nach Moissac führt durch die Natur des auslaufenden Massif Central, des Lot-Tals und der Kalkhochflächen des Quercy. Die beiden Hauptstationen auf der mittelalterlichen »Via Podiensis« werden verbunden durch ruhige, meditative Wege: Flaumeichenwälder und weite Ebenen in immer südlicherem Klima.
Im Pilgerhospiz von Conques nehmen die Pilger ihr Frühstück in der klösterlichen Gemeinschaft von Ordensbrüdern und Mitpilgern ein. Sie erhalten nach dem Morgengebet der Mönche in der Kathedrale den Pilgersegen und ein Stück Brot für den Weg. Steil gehen sie in der Rue Charlemagne hinunter in das Tal des Dourdou und überqueren den Fluss auf der alten Brücke. An der kleinen Kapelle der heiligen Fides steigen sie steil auf, und über Höhenzüge, an zwei kleinen Rochus-Kapellen vorbei, gelangen sie nach Livinhac-le-Haut am Ufer des Lot. Wenige Kilometer später blickt sie der heilige Jakobus aus einem Glasfenster der romanischen Kirche von Saint-Felix aufmunternd an. Beflügelt eilen die Pilger weiter in die an gotischen Bauten überreiche Stadt Figeac am Ufer des Célé. Im dunklen Kapelleninnern in der im Mittelalter zur Pilgerkirche ausgebauten Saint-Sauveur-Kathedrale sammeln sie sich für einen Moment und gedenken der vielen Jakobuspilger, die vor ihnen hier Station gemacht haben.
Sie steigen hinauf auf die »Causses«, die Kalkhochflächen des Quercy. Die so typische Landschaft mit kargen Böden und Eichenwäldern wird die Pilger fast bis nach Moissac begleiten. Auf der Hochfläche pilgern sie vorbei am Zeugnis des Glaubenswechsels vom keltischen Kult zur christlichen Religion: Steinkreuz und Dolmen hinter Gréalou. Weiter zieht es sie, bis sie hoch über dem Lot das Städtchen Cajarc vor sich im Tal liegen sehen. Hinab, am Lot entlang und wieder auf die Hochfläche der Causse hinauf, auf welcher die Pilger ein gutes Stück Wegs gehen bis Varaire, seit dem 13. Jahrhundert Station auf dem Jakobsweg. Früher stand hier ein dem heiligen Jakobus geweihtes Pilgerhospiz. Viele Kilometer folgen sie geradlinig einer alten Römerstraße, dann einem Trockental, das in steppenartige Landschaft übergeht. Sie haben den Lot überquert und sind in Cahors angelangt, wenn sie unter den mittelalterlichen Kuppeln der Kathedrale Saint-Etienne innehalten.
Über den Pont Valentré verlassen die Pilger die Stadt. Sie blicken auf die massive Wehrbrücke aus dem 14. Jahrhundert herab, wenn sie wenige Meter nach dieser steil den Pfad auf in die Wand geschlagenen Eisenhaken hinaufklettern. Blendend weiße Wege auf der Kalkhochfläche führen sie am Steinkreuz des blumengeschmückten Dorfes Lascabanes vorbei, vorbei auch an der alten Johanneskapelle über weite, offene Felder in die Altstadt von Montcuq. Von dort überqueren die Pilger mehrere Hügelketten und steigen steil den Stadthügel von Lauzerte empor, bevor sie unter den Arkaden am Marktplatz einen Augenblick verweilen. Den Hügel hinunter, die einsame Kapelle Saint-Sernin passierend durch Sonnenblumenfelder, auf einem alten Höhenweg — schon die Jakobuspilger früherer Zeiten benutzten ihn — , vorbei an der Kirche Saint-Martin-de-Durfort, gelangen sie direkt unter das kunstvoll gestaltete romanische Portal der Abteikirche Saint-Pierre in Moissac. Bereits der erste Pilgerführer aus dem 12. Jahrhundert weist nur Moissac und Conques als Stationen auf der »Via Podiensis« von Le Puy bis nach Saint-Jean aus. Wenn die Pilger dem Kircheninneren einen Besuch abgestattet haben, treten sie ehrfürchtig in den wahrscheinlich besterhaltenen romanischen Kreuzgang der Welt.
Im kühlen Halbdunkel des Kreuzgangs kommen die Pilger zur Ruhe. Die Aura bildgewaltiger romanischer Kapitelle fällt auf sie herab, herab in die kontemplative Stille des gleichmäßigen Wechselspiels von Licht und Schatten zwischen 116 Marmorsäulen. Das alte okzitanische Lied der Jakobusbruderschaft von Moissac klingt aus fernen Zeiten: »Eroun trento ou quaranto, que parteren a Sen Jacque, per gagna lou paradis, Moun Diou! Per gagna lou paradis.« — »Wir waren dreißig oder vierzig, die nach Santiago aufbrachen, um das
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