Das Ziel ist der Weg
desto mehr suche ich die Zuflucht bei der Einfachheit unmittelbarer Erfahrung, um den Kontakt mit den wesentlichen Dingen nicht zu verlieren... Es ist sehr wohl möglich, dass wir die Welt von der verkehrten Seite anschauen und dass wir die richtige Antwort finden können, wenn wir unseren Standpunkt änderten und sie von der anderen Seite her betrachteten, das heißt nicht von außen, sondern von innen«, schreibt der Tiefenpsychologe C.G. Jung in seinem letzten Lebensjahr.
Die Welt von innen zu betrachten, sich von innen bewegen zu lassen, führt zum eigenen Lebensweg. »Was ist mein Leben? — Was von innen her aus sich selbst bewegt wird. Das aber lebt nicht, was von außen bewegt wird«, schreibt Meister Eckhart. Sich von innen bewegen zu lassen, heißt aber auch, die permanente Kontrolle des Ichs abgeben zu müssen. Es bedeutet, zu erkennen und zu akzeptieren, wie nichtig und klein die Vorstellungen der Vernunft im Vergleich zur tief in der Seele wirkenden Kraft des Selbst sind. Der Mystiker Johannes Tauler relativiert ebenfalls: »Da kommen welche, die reden von so großen, überwesenhaften, überherrlichen Dingen, ganz so, als ob sie über alle Himmel geflogen wären, und doch haben sie nie auch nur einen Schritt aus sich selber getan in der Erkenntnis ihres eigenen Nichts. Wohl mögen sie zu vernunftsmäßiger Wahrheit gelangt sein, aber zu der lebendigen Wahrheit, die wirklich Wahrheit ist, kommt niemand, als auf dem Weg seines Nichts.« Die Erkenntnis der eigenen inneren Leere macht nun Platz für das Wirken des Göttlichen, macht Platz für die unmittelbare Wahrnehmung der Außenwelt und der eigenen tiefen Gefühle, macht Platz für das Einssein mit dem ureigenen Weg.
Der Jakobsweg von Moissac nach Saint-Jean-Pied-de-Port ist ein Weg durch das Hügelland der Gascogne, durch die Ebene des Adour und durch das immer hügeliger werdende Pyrenäenvorland. Viele alte Kirchen und Kapellen am Wegesrand geben den Pilgern Zeugnis von der Jakobuswallfahrt seit Jahrhunderten.
Nachdem die Pilger nochmals einen Augenblick im romanischen Kreuzgang in Moissac verweilt haben, treten sie unter dem Portal der Abteikirche hervor, im Rücken den Abschiedsblick der Statuen des Tympanons. Am Ufer des Seitenkanals der Garonne gehen sie entlang; überqueren den Fluss und steigen steil hinauf, mitten ins alte Stadtzentrum von Auvillar mit seiner runden Markthalle. Unter dem Uhrenturm hindurch und über das Hügelland weiter nach Saint-Antoine, Station des Pilgerordens der Antoniter auf dem Jakobsweg seit 1204. Wenn die Pilger in die Kirche eintreten, lassen die mozarabischen Anklänge im Portal sie erkennen, welchen kulturverbindenden Einfluss der Pilgerpfad im Mittelalter hatte. Über die Anhöhen um die Bastide Miradoux erreichen sie schließlich Lectoure, das schon im Mittelalter wichtige Station mit Pilgerhospizen und befestigte Bischofsstadt gewesen ist.
Nachdem die Pilger den kühlen Innenraum der Kathedrale Saint-Gervais et Saint-Protais verlassen haben, zieht es sie über Hügel und Felder nach Marsolan — auch hier stand einst ein Hospital für Jakobuspilger — und weiter über den historischen Jakobsweg zur Kapelle von Abrin. An der romanischen Kapelle der ehemaligen Johanniter-Komturei erblicken sie in einer Nische den Haken, an dem eine Lampe ehedem Pilgern in der Dunkelheit den Weg anzeigte. Weiter wandern sie nach La Romieu, wo sie sich im Kreuzgang und der Stiftskirche Saint-Pierre eine Weile ausruhen. Schon der Name der Stadt, »La Romieu«, zeigt die tiefe Verbindung zur Pilgerfahrt an. »Romieu« ist der allgemeine Name für Pilger: derjenige, »der nach Rom geht«. Ein deutscher Mönch hatte im Jahr 1080 auf dem Rückweg von Santiago de Compostela die Siedlung gegründet.
An der romanischen Kapelle Saint-Germaine vorbei, über Erhebungen und an einem Stausee vorüber gelangen die Pilger schließlich zur Kathedrale Saint-Pierre in Condom mit ihrem ausgedehnten gotischen Kreuzgang. Nicht weit hinter Condom überqueren sie den Pont d’Artigues; die romanische Brücke wurde eigens für Pilger vom Erzbistum Santiago de Compostela erbaut — viele Hundert Kilometer vom Grab des heiligen Apostels Jakobus entfernt. Sie wandern an der in meditativer Einsamkeit liegenden Kirche bei Routges vorüber und über Anhöhen bis nach Montréal-du-Gers, eine der befestigten Städte aus dem 13. Jahrhundert. Von dort aus gehen sie inmitten von ertragreichen Weingärten und dann auf einer langen ehemaligen Eisenbahntrasse
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