Das Ziel ist der Weg
Moment auf meinem Jakobsweg werden. Mitten in der Nacht gegen 4:00 Uhr sind wir mit Taschenlampen aufgebrochen, Christian und ich. Ich hatte mich gestern im Sturm ins Franziskanerkloster von Saint-Palais geflüchtet, meine Weggefährten waren später einer nach dem anderen eingelaufen: Christian, Agnes, die Vier. Der Himmel hatte urplötzlich losgelassen, was seine dunklen Wolken hergaben: Sturzregen. Die Luft ist immer noch feucht vom Vortag. Mit jedem Atemzug inhalieren wir dichten Nebel. In die Schwärze stanzen unsere Taschenlampen weiße Kreise. Schweigend gehen wir nebeneinander her, passieren die Stelle, an der die drei großen Jakobswege zusammenkommen. Und dann: Auf dem aufsteigenden Prozessionsweg zur Kapelle von Soyarza erhebt sich die Sonne rotgolden über den unter einer Watteschicht aus Nebel liegenden Tälern. Die Luft ist klar und reingewaschen vom gestrigen Regen. Der Weg führt geradewegs auf die Pyrenäen zu. Wir erreichen die Kapelle auf der Anhöhe. Nebel im Tal. Warme, lange Sonnenstrahlen im Gesicht. Die Landschaft verzaubert, vergoldet. Ein Gemälde von Caspar David Friedrich. Und wir stehen mittendrin.
Dann versucht mich jemand. Im langen Anstieg auf einen der Pyrenäenvorhügel habe ich eine Gruppe von Wanderern mit hohem Tempo überholt. Vielleicht sind es fünfeinhalb Kilometer pro Stunde. Einer hängt sich in meinen Windschatten und will an mir vorbeikommen. Er kann nicht wissen, dass ich schon 1700 Kilometer in den Beinen habe. Ich lasse einfach los: Ohne Gedanken, ganz in innerer Ruhe schaue ich meinem Körper zu, wie er die Steigung hinauf beschleunigt, weit über sechs Stundenkilometer. Ich bin alles: die Steine des Wegs unter mir, mein schneller Atem, die Hitze, meine rhythmisch arbeitenden Beinmuskeln, die Büsche und Sträucher entlang des Wegs, das Vor und Zurück meines Pilgerstabs, die brennende Sonne, der von meiner Stirn tropfende Schweiß. Dann bin ich oben. Ich drehe mich um und gehe auf den Wanderer zu, der kurz hinter mir mitgelaufen ist. Wir lachen uns an und umarmen uns. »On peut essayer...« — »War einen Versuch wert...«, sagt er nach Luft schnappend. Ich gestehe ihm ebenso knapp bei Atem, dass ich schon seit zwei Monaten täglich laufe. Es sind nur noch ein paar Kilometer bis zum Etappenziel.
Saint-Jean-Pied-de-Port. Ich schaue die mit bunten Wimpeln geschmückte Hauptstraße hinunter, im Hintergrund die grünen Pyrenäenberge. Die touristische Stadt ist voller Menschen. Wie viele Pilger darunter sind, vermag ich nicht zu sagen. Wenn es stimmt, was in den Pilgerführern steht, wird es ab morgen vorbei sein mit meiner Pilgerbeschaulichkeit. Ab hier beginnt die meistbegangene Strecke des Jakobswegs, dank des Booms, den Paolo Coelho mit seinem Buch ausgelöst hat. Aber wer weiß, vielleicht wäre ich ohne ihn auch nicht hier. Wie das wohl wird? Ein wenig mulmig ist mir schon. Ich kann kein Spanisch. Wieder schaue ich hinauf zu den Bergen. Majestätisch liegen sie in der Abendsonne da. Wehmut überkommt mich, so schön war meine Zeit in Frankreich. Viel ist geschehen, viel hat sich bewegt. Ab morgen Spanien, ich bin gespannt.
Pilgerrout(in)e
Von Saint-Jean nach Santiago
»Bei den meisten Menschen ist die Ruhe nichts als Erstarrung und die Bewegung nichts als Raserei.«
Epikur von Samos
Pilgerroutine, Pilgeralltag — Pilger erreichen auf einer langen Pilgerfahrt den Punkt, an dem das Pilgern zur neu gewohnten Alltagsstruktur geworden ist. Weit zurück liegt der Aufbruch mit seinem Zauber und seinen Anfangserfahrungen. Die Seelenwandlung ist weitestgehend vollzogen, der Ruf des Weges gehört und verarbeitet. Die Aufmerksamkeit findet nun nicht mehr Zuflucht in äußeren und inneren Schwierigkeiten des Weges. Ein gleichförmiger Rhythmus stellt sich ein. Der Pilger Tagwerk besteht irgendwann aus den immer gleichen Verrichtungen: früh — oft sehr früh — aufstehen, kilometerweit laufen, unterwegs Nahrung organisieren, meditieren, Sehenswürdigkeiten betrachten, einen Schlafplatz suchen und finden, Wäsche waschen, Tagebuch schreiben, sich mit anderen Pilgern austauschen, zu Abend essen, die nächste Tagesetappe vorbereiten, früh zu Bett gehen.
Doch auch diese Erfahrung ist Teil der Pilgerschaft. Wieder verlangt der Weg eine neue Qualität im Zyklus der seelischen Wandlung. Permanente innere Entwicklung im Eilzugtempo ist kaum möglich. Die Seele benötigt Zeit, um neue Einsichten zu verarbeiten und in das Alltagsleben zu integrieren. Erst aus einer
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