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Das Ziel ist der Weg

Das Ziel ist der Weg

Titel: Das Ziel ist der Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Hagenmeyer
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Paradies zu gewinnen. Mein Gott! Um das Paradies zu gewinnen.« Die Pilger hat berührt, verwandelt und geprägt, was ihnen seit Conques im Tal des Lot und auf den Kalkhochflächen des Quercy widerfahren ist.

    »Le TGV arrive!« — »Der TGV kommt!«, ruft mir eine Gruppe von vier älteren Pilgern kurz hinter Montredon scherzhaft zu. Zwei Franzosen, eine Französin und — wie sich später herausstellt — ein Welschschweizer aus dem Wallis begrüßen mich herzlich. Alle sind sie um die 60 Jahre alt, sie bereiten sich auf ihren Ruhestand vor. Mit der »Gnade der jungen Beine« versehen, laufe ich ein wesentlich höheres Tempo als sie. Was ich in diesem Moment noch nicht weiß: Bis zu den Pyrenäen werde ich ihnen in Zukunft jeden Vormittag ungefähr um die gleiche Zeit begegnen. Sie stehen in der Dunkelheit lange vor mir auf und laufen die gleichen Etappen, die gleichen Tageskilometer wie ich. Die sind vielleicht zäh! Schnelligkeit ist eben relativ.

    Wellen schlagen leise unter mir an den hölzernen Anlegesteg für Ruderboote. Das Holz riecht warm nach Sommer, nach dem Abdruck nackter Füße, nach Badetüchern und nach Sonnenöl. Mein Atem geht schnell, ich habe Sonnenbrand auf meinem Rücken und bin total erschöpft. Die anderen waren diesmal richtig gut, Kunststück, die kommen ja von hier, kennen sich aus. Wenn es in ein, zwei Stunden weitergeht, werde ich schon einen kriegen... es ist schwer, sich unter Wasser zurechtzufinden... das hölzerne Gewirr der beiden schrägen Anlegestege... pass auf die Pfosten mit den rostigen Nägeln auf... wenn man unten ist, muss man sofort durchtauchen, sobald der Fänger ins Wasser springt... wenn man oben ist, muss man den Anlauf genau auf den Zeitpunkt anpassen, an dem sich der Fänger erstmals am Holz festhält, und über ihn hinweghechten... in zwei Stunden wieder, in zwei Stunden wieder... Die Stimme meiner Großmutter ruft mir zu, es sei an der Zeit, eine Wurstsemmel zu essen. Großmutter? Langsam öffne ich die Augen. Über mir die Silhouetten sich bewegender Äste, durch die das Mittagslicht streut. Verwirrung. Dann die Erkenntnis: Ich bin bei einer Mittagsrast in Gréalou auf einem hölzernen Tanzboden eingeschlafen. Sein Geruch ist derselbe wie derjenige der Anlegestege im Ruderverein meines Großvaters am Wörthersee bei Klagenfurt. Als ich ein Kind war, haben wir in den Sommerferien immer mit den anderen Kindern Fangen im Wasser gespielt...

    »Wo ist der Weg?« In Gedanken versunken finde ich mich mit einem Mal auf einem leeren Feld wieder. Das ist mir noch nie passiert. Keine Markierung zu sehen. Kein Baum weit und breit. Die Sonne brennt wie ein Scharfrichter vom Himmel. Ich habe mich verirrt.

    Der Saft läuft mir klebrig übers Kinn, tropft auf den Lehm unter mir. Mit dem Handrücken wische ich mir den Mund ab. In Montcuq bin ich mit den ersten Sonnenstrahlen aus dem Armeezelt des Campingplatzes aufgebrochen, das als Wanderherberge dient. Die Gruppe junger Franzosen aus Paris schläft noch. Müde sahen sie aus, als sie gestern Abend ankamen: Die Gesichter von der Sonne rot gesengt, die Füße von frischen Blasen gepeinigt, die Glieder vom kilometerlangen Laufen mit dem Rucksack schwer. Sie wollen vier Tage auf dem Jakobsweg von Cahors nach Moissac gehen. »Vielleicht brechen sie gerade auf«, kommt mir in den Sinn und schiebe mir ein weiteres Stück in den Mund. Die ersten Sonnenstrahlen scheinen gelb und warm auf die Felder, noch atme ich die kühle, feuchte Luft des Morgens. Ich war auf einen Anhänger zugelaufen, auf dessen Ladefläche ein kleiner Junge inmitten von frisch geernteten Honigmelonen saß: »Tu en veux un?« — »Willst du eine?«, fragte er mit hoher Stimme und warf mir auf mein Kopfnicken eine grüngelbe Melone wie einen Ball zu. Hier sitze ich, einen Kilometer weiter, sehe zu, wie die Farbe der Felder immer heller und strahlender wird. Honigaroma steigt mir in die Nase. Der Saft läuft mir klebrig übers Kinn, tropft auf den Lehm unter mir.

    Nur ein Buch auf dem Altar, sonst ist die Kapelle leer. Unvermittelt liegt sie mitten im Wald auf einer kleinen Lichtung. Harter Kontrast, als ich durch den niedrigen Türsturz eintrete: innen die Kühle dicker Steinmauern, außen südfranzösische Hitze. Halbdunkel gegen gleißendes Sonnenlicht. Im Buch öffnen sich die Gedanken und Gefühle vieler Pilger vor mir. Sie haben sich auf den leeren Seiten verewigt: Trotz aller individueller Beweggründe, einen Jakobsweg zu gehen, vieles bewegt die

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