Das Ziel ist der Weg
»TÜ«-Kennzeichen. Dann dieser Mann. Ich schaue ihn fragend an. Plötzlich dämmert es mir: Das war schwäbisch, »TÜ« ist das Autokennzeichen von Tübingen! »Willst du mit uns frühstücken?« »Na gerne!« Sänger stehen wohl etwas später auf als Pilger: Ein Chor aus Tübingen probt eine Woche lang in Auvillar. In einem heimelig renovierten Haus direkt am Marktplatz gibt es ein großes Frühstück. Frisch gebrühten Kaffee, Orangensaft, noch warme Baguettes, selbst gemachte Marmelade und vieles mehr. Es tut gut, vertraute Klänge aus der Heimat zu hören. 1500 Kilometer unterwegs und mitten unter Schwaben. Die Tübinger können gar nicht glauben, dass ich zu Fuß hierher gelaufen bin. Ich kann es verstandesmäßig auch nicht, aber meine braun gebrannten Beine sehen so aus, als wüssten sie es. Und weil das Frühstück so gut war und wir tief miteinander ins Gespräch gekommen sind, lasse ich mich auch gerne zum Mittagessen einladen.
Jeden Morgen wache ich von selbst früher auf. Ich fühle mich, als sei ich eingewoben in den Rhythmus der Natur. Traumlos und tief sind meine Nächte. Mit der ersten Dämmerung breche ich auf, ich habe die Morgenstimmung lieben gelernt: Die Wege noch schemenhaft in der milchigen Luft. Der Bodennebel, der sich langsam auflöst und den wärmenden Sonnenstrahlen Platz macht. Zahlreiche Kilometer liegen oftmals schon hinter mir, wenn die Sonne mittags mit ihrer südlichen Kraft die Farben der Landschaft um mich herum ausbleicht. Auch mein durchschnittliches Lauftempo hat sich erhöht. Ich bin ohne Eile schnell unterwegs, mein Körper hat seine ihm eigene Schrittgeschwindigkeit gefunden.
Als ich nun im Abendlicht nach Eauze komme, bin ich doch müde. Heute waren es um die 40 Kilometer: Die Abstecher in die befestigte Burgstadt Larresingle, zur romanischen Dorfkirche Saint-Pierre-de-Genens und zu den farb- kräftigen Mosaiken der gallorömischen Villa von Seviac haben den Weg lang gemacht. Irgendwann verlief ich mich in den darauf folgenden Weingärten dann auch noch. Den Rest haben mir die letzten sieben Kilometer bis Eauze gegeben: Die Bäume einer ehemaligen Eisenbahntrasse bilden einen kilometerlangen monotonen Tunnel aus Blattwerk, der kein Ende nehmen will: eine wahre Geduldsprobe. Ein Bier vor der Kathedrale bringt meine Lebensgeister zurück. Schräg hinter mir sitzt eine Frau, die die Szene mit Aquarellfarben festhält. Erst später werde ich erfahren, dass sie Agnes heißt, aus Paris kommt und bis nach Saint-Jean pilgert. Wo Christian wohl ist? Dem sympathischen Mittfünfziger begegne ich seit Saint-Antoine jeden Abend. Überraschung! Da steht er, Christian, mit dem Kochlöffel in der Hand. Der Duft des Abendessens zieht durch die Küche der Wanderherberge. Er hat für alle gekocht und lädt uns zum Essen ein. Irgendwo hat er unterwegs im Armagnac eine lang gelagerte Flasche gleichnamigen Branntweins aufgetrieben, den er als Digestif ausschenkt. Jetzt will ich nur noch in meinen Schlafsack. Morgen in aller Frühe geht es weiter.
Mir ist sofort schwindlig, als ich in die Krypta der Kirche Sainte-Quitterie hinabsteige. Dabei habe ich gar nichts Besonderes gegessen oder heute übermäßig viele Kilometer hinter mir. Ein sehr alter Mann zeigt uns den römischen Steinsarkophag hinter der Quelle im Fußboden und erklärt uns die Akustik der Kapelle, welche auch geflüsterte Schallwellen verstärkt und hoch ins Hauptschiff der Kirche schleudert. Er bedeutet uns, dass dieser Ort seit Urzeiten ein geheiligter Ort ist, schon ein römischer Tempel stand hier. Mir wird noch unwohler. Der alte Mann schaut mich aufmerksam an: »Si tu le sens pour la première fois, ça peut te déranger.« »Wenn du es zum ersten Mal fühlst, kann es dich verstören.« Er erläutert mir, dass von der Quelle eine hohe erdmagnetische Strahlung ausgeht, die man fühlen kann. An so einen Hokuspokus habe ich bisher ja nicht geglaubt, aber tatsächlich: Kaum bin ich aus der Krypta gestiegen, fühlt sich wieder alles ganz normal an. Ist das zu verstehen?
Mais, Mais, Mais; Tage des Mais. Vor mir Mais und neben mir Mais und hinter mir Mais und neben mir wieder Mais. Nichts als Mais. Überkopfhoch. »Ein Mais ist ein Mais ist ein Mais.« Seit zwei Tagen laufe ich nun in Maislabyrinthen herum. Wüste anderer Art: Statt grenzenloser Sicht permanent Sichtbegrenzung. Wände in Monokultur. Rot-weiße Markierungen sind genauso gut wie ein roter Faden. Nur raus hier.
Es wird der wahrscheinlich sentimentalste
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