Das Ziel ist der Weg
Jakobuspilger doch in ähnlicher Weise. »Oculi mei semper ad Dominum, quia ipse evelet de laqueo pedes meos...«
Mir bleibt der Atem stehen: Diesen Kreuzgang habe ich nicht erwartet. Seit drei Tagen bin ich unterwegs in der Hitze der Hochflächen, geblendet vom stechenden Blick der südlichen Sonne von oben und dem grellen Widerschein kalkweißer Wege von unten. Gerade besiegelte ich noch am Tisch im Freien meine heutige Etappe mit einem Café und einem eiskalten Perrier Menthe, während ich den Blick über das Tympanon von Moissac wandern ließ. Meine Augen gewöhnen sich nun nur sehr langsam an den Halbschatten. Ungewohnt kühle Luft strahlt von den Steinen, ein zeitloser Friede liegt über dem mittelalterlichen Wandelgang. Jedes Kapitell eine eigene Bildergeschichte. Säule um Säule um Säule um Säule um Säule um Säule um Säule um Säule...
Der regelmäßige Rhythmus beruhigt mich. Ein einsamer großer Baum inmitten des Steinquadrates. Kreuzgänge haben es mir immer schon angetan. Besonders dieser.
Wir sind zu viert: Italo Calvino, Shakespeare, Thif und ich. Thif ist eine Abkürzung, eigentlich trägt die charmante Franco-Vietnamesin den für europäische Zungen unaussprechlichen Namen Thi-Phuong. In unseren Stühlen locker halb nach hinten gelehnt, die Füße auf den Durchbrüchen im Kreuzgang des Karmeliterklosters in Moissac, das zur Wanderherberge renoviert wurde. Literaturgesprächskreis mitten in Südfrankreich. Jeder mit seinem Buch bewaffnet, unterhalten wir uns über Calvino und die Sonette Shakespeares. So viel Kultur auf einmal ist ziemlich ungewohnt, aber eine echte Herausforderung. Später werden wir mit dem Rest der siebenköpfigen Pilgergruppe aus Paris gemeinsam zu Abend essen: dampfende Spaghetti, Wein im Überfluss, die laue Luft eines milden Sommerabends, Rosenduft aus dem Klostergarten, Kerzen im Kreuzgang und die unnachahmlich vibrierende Atmosphäre französischer Lebensart erfahren.
Erfahren
Von Moissac nach Saint-Jean
»Es gibt eine Kraft in der Seele, der sind alle Dinge gleich süß; ja, das Allerböseste und das Allerbeste, das ist alles gleich für diese Kraft, sie nimmt alle Dinge über hier und über jetzt. Jetzt, das ist die Zeit, und hier ist der Raum.«
Meister Eckhart
»Erfahren« bedeutete ursprünglich »reisen, durchfahren, durchziehen, erreichen«. Früh wird »erfahren« jedoch schon im heutigen Sinn verwendet: »durchmachen, erforschen, kennenlernen«. Die Pilger-Fahrt und die Er-Fahrung sind schon in ihrer Grundbedeutung eins. Pilgerschaft und Wandlung gehören zusammen: Pilger wandeln sich, indem sie sich erfahren. Dabei führt sie die zweifache Lösung zur Gelassenheit: Einerseits die Los-Lösung aus ihrem bisherigen Alltag, andererseits die Lösung der drängenden Frage ihres Rufes in Einheitserfahrungen. »Lassen heißt gewandelt gehen«, sagt der Psychotherapeut Bert Helliger. Die Zeit einer unbegrenzten Freiheit ist gekommen. Zeit und Raum lösen sich endgültig auf. Es ist unerheblich, wo Pilger sind, wo sie heute Abend sein werden, wie viele Kilometer sie heute zurücklegen. Sie sind unmittelbar mit der Natur verbunden. Sie sind völlig frei. Sie sind. »Oft liegt das Ziel nicht am Ende des Weges, sondern irgendwo an seinem Rand«, schreibt der Literat Ludwig Strauss. Die Erfahrung der Einheit wohnt auf Dauer in Pilgern, ist bedeutungsvoller als jede Ankunft am Ziel: Das Einssein mit der Natur, mit dem Göttlichen und sich selbst, der unmittelbare Kontakt mit seinem Inneren wirkt als Bild für immer in ihrer Seele. Plötzlich fühlen sie ihren »eigenen Weg«. Instinktiv wissen sie die »echten Gefühle«, die aus ihrem Innern kommen, von ihren Projektionen zu unterscheiden. Nicht das, was sie mit ihrem Ich und ihrer Vernunft wollen, ist ausschlaggebend, sondern das, was ihnen aus der Tiefe ihrer Seele zukommt, was sie dort in ihrem Inneren als ihren eigenen Weg finden. »Suchen und Finden ist zweierlei, und dem Finden ist ein zu anstrengendes Suchen nicht günstig, im Gegenteil... Der Weg vom Suchen und Finden ist nicht gerade, und Willen und Vernunft genügen nicht, ihn zu gehen. Man muss horchen, lauschen, warten können, Ahnungen offen stehen. Mehr weiß ich nicht«, schreibt Hermann Hesse und verlangt von sich: »Ich muss Geduld haben, nicht Vernunft. Ich muss die Wurzeln tiefer treiben, nicht an den Ästen rütteln.«
»Je älter ich werde, desto tiefer bin ich beeindruckt von der Vergänglichkeit und Unsicherheit unserer Erkenntnis und
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