Das Ziel ist der Weg
stabilisierten Seelenlage heraus werden wieder Impulse aufgenommen und verarbeitet, die dann zu weiteren Reifeschritten führen. Sonst wäre die Seele wohl überfordert. Oder wie es eine französische Jakobusschwester im Bild des Weges beschrieb: »Si on brûle les étapes, on n’arrive pas au vrai but.« — »Wenn man die Etappen verbrennt, erreicht man das wahre Ziel nicht.«
Zum Pilgersein gehört es, dieses Entwicklungsplateau zu akzeptieren und zu gestalten. Scheinbar bewegt sich innerlich nur noch sehr wenig, sogar vermeintliche Rückschritte lassen am Sinn der Pilgerfahrt zweifeln. Wenn Pilgern bewusst ist oder wird, dass es einer Seelenzeit der Stabilisierung bedarf, werden sie diese emotionale Durststrecke annehmen und formen können. »Durchzuhalten« gewinnt eine andere Bedeutung: Es sind keine »dramatischen Gefahren«, welche die Seelenreise der Pilger nunmehr bedrohen, sondern die Flucht in die Routine, in die Monotonie des neuen Alltags. Die in der Tiefe der Seele wirkenden inneren Kräfte der Konsolidierung wirken sich nur noch in geringen, kaum wahrnehmbaren Veränderungen aus. Der äußere Alltag von Pilgern stellt keine wesentliche unbekannte Herausforderung mehr dar. Die Versuchung ist groß in dieser Leere, entweder die Pilgerschaft abzubrechen oder in blindem mechanischen Eifer zum Ziel zu hasten. Nun heißt »durchhalten«: in der Einfachheit des Pilgerwegs innerlich wach zu bleiben, innere Leere zu ertragen. Stetig Schritt für Schritt. Pilgeralltagsarbeit: Kilometer um Kilometer zu gehen, ringend um seelische Aufmerksamkeit sich selbst, den Mitpilgern und dem Weg gegenüber.
Wenn die innere Bewegung abgeklungen ist, wendet sich das Bewusstsein von Pilgern vermehrt von inneren Prozessen nach außen, hin zu den Mitmenschen. Die nun gewandelte Identität ordnet sich neu in die Gemeinschaft ein, in die Pilgergemeinschaft. Denn Mitpilger sind nicht nur Gefährten auf demselben Weg, sie gehen zugleich ihren jeweils ganz eigenen Lebens- und Pilgerweg. Sie begleiten einander wie gedrehte Stränge eines Seils — alle gemeinsam und doch jeder allein. Aus ihrem gewandelten Selbstverständnis erwachsen nun neue Geltungsansprüche für die Pilger, die sie erst vorsichtig tastend in der wohlwollenden Gemeinschaft ihrer Gefährten erkunden. Sie schärfen ihre noch nicht ganz festgelegte neue Lebensorientierung und stabilisieren sie zugleich, indem sie ihren und die Wege der anderen gleichermaßen respektieren und innerlich zwischen ihnen vermitteln.
Der Prozess der inneren Festigung durch die äußere Routine des Pilgeralltags führt zu einem weitgehenden Abschluss des auf dem Weg begangenen Seelenwandels: Die Pilger bringen ihren Weg mit dem der Gefährten in Einklang. Sie finden sich in eine Pilgerroutine und die Pilgergemeinschaft ein, sie begegnen der Monotonie des Alltags und ihrer inneren Leere. Sie lernen, ihr spirituelles Anliegen auch unter gleichförmigeren Bedingungen nicht zu verlieren. Ihre gewandelte Seele festigt sich in den wiederkehrenden Rhythmen des Pilgerlebens.
Der dritte große Wegabschnitt bis nach Santiago de Compostela steht im Zeichen dieses Pilgeralltags, dieser Pilgerroutine. Im Vergleich zu den Erfahrungen des Aufbruches bis Le Puy sowie der Seelenwandlung bis Saint-Jean-Pied-de-Port schaffen die karge, weite Landschaft, die vielen Pilger und die beinahe schon touristische Organisation dieser meistbegangenen »Hauptroute« eine Atmosphäre der Routine bis nach Santiago de Compostela. Auf den fast 800 Kilometern der spanischen Wegstrecke, des »Camino Francés«, steht die neue Selbsterfahrung auf dem Prüfstand von Alltagsbedingungen: wer in Santiago ankommt, weiß die seelischen Störsignale des Alltags und der Routine auszufiltern. Pilger haben sich dann in ihrer gewandelten Identität weitgehend stabilisiert. Sie sind wahrhaft andere geworden.
Auflaufen
Von Saint-Jean nach Burgos
»Wer eine Wallfahrt unternimmt, der tut gut daran, nicht im Schwarm der Leute zu gehen. Mit der großen Volksmenge zu pilgern, würde ich nie anraten. Sind Hingabe und Glaube da, genügt jedes Bild, sind sie aber nicht da, so genügt keines.«
Johannes vom Kreuz
Zwangsläufig nimmt die Anzahl der Pilger zu, je näher man dem Zielort seiner Pilgerschaft kommt: Der eigene Pilgerweg ist nur einer der vielen Haupt- und Nebenflüsse, welche sich zu immer größeren Strömen von Pilgern vereinigen. So kommt für alle Pilger einmal der Moment, in dem sie aus ihrer Einsamkeit und
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