Das Zimmermaedchen
verstört, woher weiß ich, denkt Lynn, dass Stellen, die ich nicht sehen kann, auch wirklich sauber sind, vielleicht sollte ich mir einen Zahnarztspiegel besorgen, mit dem ich auch die Innenränder einsehen kann, einen Toilettenrandspiegel, um auch die kleinsten Reste von Kot oder Urinspritzern aufzuspüren, aber was ist mit den Bakterien, die Bakterien kann man nicht sehen, man kann nur versuchen, den Bakterien mit WC-Reinigern den Garaus zu machen, man muss den Etiketten glauben, die auf den WC-Reinigern kleben, vernichtet die Bakterien und sorgt für restlose Sauberkeit, dazu das Bild eines Jungen, der vor der Toilette kniet und dessen Zähne genauso blitzen wie die weiße Emailleschüssel.
Am Samstag verlässt Lynn das Hotel um vier Uhr. Zu Hause schaut sie, wie schon so oft an diesem Tag, in ihr Portemonnaie, sie zählt die Scheine, nimmt zwei heraus, legt sie auf den Wohnzimmertisch. Stellt die Wasserflasche auf die Kante der Scheine, damit sie nicht wegfliegen können, falls Chiara das Fenster öffnen will, denn draußen weht heftiger Sommerwind. Jede Minute sieht Lynn zur Uhr und wird nervöser. Sie reibt die Hände an den Schenkeln trocken.
Dann klingelt es, Lynn drückt den Öffner und wartet, bis Chiara in der Tür steht.
»Hi«, sagt Lynn, »komm rein.«
»Hallo«, sagt Chiara und zieht das o in die Länge, ein dunkler, bodenloser Bogenstrich. Diese Stimme, denkt Lynn, sie passt nicht zu Chiara, diese Stimme, sie gehört einem Menschen, der tief in ihr sitzt und darauf wartet, dass er irgendwann das Licht der Welt erblickt. Chiara schiebt sich an Lynn vorbei. Sie tut, was sie tut, natürlich, selbstverständlich. Sie sieht gut aus, denkt Lynn und schließt die Tür. Nur die Haare zu sehr gefärbt. Ein kurzer Rock, Strümpfe schwarz, hohe Schuhe, Top, kleine Brüste, Chiara trägt keinen BH , das sieht Lynn sofort, sie wird Mitte zwanzig sein, denkt Lynn, die Schminke ist alles andere als dezent, und Chiaras Augen, das hat Lynn gleich gesehen, sind mandelförmig, braun, sie passen nicht zu den blonden Haaren.
»Warum färbst du die Haare?«, fragt Lynn.
Chiara dreht sich um, einen Augenblick mustert sie Lynn.
»Woher hast du meine Nummer?«, fragt Chiara.
»Wie viel Zeit hast du?«, fragt Lynn.
»Was willst du denn?«
»Seit wann machst du das?«
»Was?«
Lynn schweigt. Chiara setzt sich aufs Sofa. Sie kreuzt die Beine. Unterm Rock sieht Lynn das Strumpfband.
»Du denkst, ich bin ne Nutte«, sagt Chiara. »Bin ich nicht. Ich bin keine Nutte.«
»Wenn ich sage, zieh dich aus, ziehst du dich aus«, sagt Lynn.
»Kommt drauf an, ob ich’s will.«
»Wenn ich zahle?«, sagt Lynn und zeigt auf das Geld.
»Ich such mir meine Kunden aus, ich hab Kunden, keine Freier, verstehst du, ich fick nur, wen ich ficken will.«
»Du tust es für Geld.«
»Ich hab keinen Zuhälter, ich geh nicht auf den Strich. Nutten müssen tun, was man ihnen sagt, ich tu nur, was ich tun will.« Chiara steht auf. »Sag mir, woher du die Nummer hast.«
»Warte«, sagt Lynn. »Warte.«
Chiara setzt sich wieder. Lynn nimmt die Flasche Wasser und öffnet sie, es zischt kurz, sie setzt die Flasche an den Mund und trinkt einen Schluck. Sie hält sie Chiara hin.
»Die Nummer«, sagt Chiara.
Lynn trinkt noch einen Schluck, weil ihr Mund seltsam trocken ist, verstaubt, man müsste ein Staubtuch für den Mund erfinden, für solche Situationen, denkt sie, wenn der Mund staubtrocken ist, müsste man ein Mundstaubtuch haben, um den Mund von innen vom Staub zu säubern, damit man wieder reden kann, ohne diese Schmatzgeräusche, die entstehen, wenn der Mund zu trocken ist und der Speichel nicht mehr flüssig, sondern eine zähe Masse.
»Du bist im Eden gewesen«, sagt Lynn. »Vor kurzem. Mit nem Mann. Zimmer 304. Ich bin unterm Bett gelegen. Ich hab deine Nummer abgeschrieben. Vom Kärtchen. Du hast es auf den Tisch gelegt.« Lynn denkt: Sie glaubt mir nicht. »Ich bin Zimmermädchen dort«, sagt sie noch.
»Im Eden?«, fragt Chiara.
»Ja.«
Lynn hört Chiaras Gedanken, die sich eigene Wahrheit reimen, Zimmermädchen, das beim Putzen ein Sex-Kärtchen findet und die Nummer abschreibt, weil einmal wenigstens in ihrem Leben etwas Aufregendes passieren soll.
»Macht es dir mit Frauen mehr Spaß?«, fragt Lynn.
Chiara runzelt die Stirn. Sie denkt kurz nach. Dann streicht sie in der Luft etwas aus, als wolle sie eine Fliege verjagen. »Natürlich«, sagt Chiara, und Lynn weiß, dass Chiara genau das sagt, was Lynn hören will.
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