Das zweite Gesicht
Bücher von ihm in Maskens Arbeitszim m er gesehen.«
»Oh, gewiss … Masken ist einer seiner glühendsten Verehrer. Oder war es, ehe Steiner der Theosophie den Rücken kehrte und m it der Anthroposophie eine eigene Richtung begründete. Steiner ist danach von vielen seiner früheren Behauptungen abgerückt oder hat sie relativiert. Aber während seiner Jahre als Theosoph hat er einige sonderbare Abhandlungen verf a sst, unter anderem einen Text, den er Der Egoismus in der Philosophie genannt hat. Im Grunde ist dies und einiges andere, das er da m als von sich gegeben hat, eine philosophisch verbrä m t e Verteidigung einer a b soluten, ko m pro m iss l osen Ich-Sucht. Nur der Einzelne zählt, sein eigenes W ohlergehen, koste es, was es wolle.«
Chiara schwirrte der Kopf, aber sie war klar genug, um vorauszuahnen, auf was Elohim h i nauswollte. »Und Sie glauben, Masken habe Jula zur Theosophie bekehrt und ein egoistisches, ich-bezogenes Scheusal aus ihr ge m acht ? «
»Das wäre die einfach s t e Varia n te, nicht wahr? Ab e r ganz so simpel war es n i cht. Jula muss bereits in Mei ß en m it Theosophen in Berührung gekommen sein.«
»Ich wüsste nicht, wie.«
»Das kann überall passiert sein. In einem Café, auf einem Fest, in einer Bücherei … wo Sie wollen. Theosophen verstecken sich nicht unter einem Stein und kom m en b e i Voll m ond hervor – so sind sie nicht. Sie suchen die Ö ff entlic h keit, h alten Reden, manche s i nd sogar Lehrer oder Universit ä tsprofessoren. Jula kann einem oder auch m ehreren von ihnen begegnet sein, vielleicht während einer Vortragsreise. Wer weiß, vielleic h t w ar es sogar Masken – früher h a t e r of t Vorträ g e gehalten, nicht nur hier in der S t adt. Aber so was lässt sich kaum rekonstruieren, wenn m a n nicht alle Einzelheiten kennt.«
»Gehen wir davon aus, Sie hätten Recht, dann …«
»Dann hat er Jula überzeugt, dass all i h re Tr ä u m e in Erfüllung gehen können. Sie m uss nur den ersten Schritt tun und ei n en starken W illen zei g en – da m i t fängt es im m er an. Viell e icht h at e r i h r e i n paar Büc he r zu lesen gegeben oder eine Seance m it ihr veranstaltet, um den Geist eines indischen Mah a t m as heraufzubeschwören. Alles ist möglich. Fest steht nur, dass sie in Kontakt zu diesen Leuten gekom m e n ist, und sie haben ihr eingeredet, dass ihre Wünsche W i rklichkeit werden können.«
»Jula hat Meißen sehr überstürzt verlassen.«
»Sehen Sie? Sie ging nach Berlin u n d geriet tie f er in die hiesigen theosophische Zir k el. Eine hübsche junge Frau m it einem gewissen T alent sich darzustellen und d e m brennenden W unsch, Karriere beim Fi l m zu m achen – kein W und e r, dass Masken von ihr fasziniert war. Er hat sich ihrer angenommen und … den Rest kennen Sie.«
Chiara spielte das Ganze, noch ein m al in Gedanken durch, folgte den Stationen von Julas W eg wie Punkten auf einer Landkarte. » W ie viel davon ist Spekulation ? «
Elohim schaute über ihre Schulter ins Lokal. »Einiges, natürlich. F est steht jedenfalls, Jula war Theosophin. Sicher ist auch, dass Masken Steiners Philosophie des Egois m us i n eine äußerst prag m atische Denk- und Lebensweise u m gesetzt hat – daraus hat er nie ein Gehei m nis ge m acht. M an kann Steiners Theorien und die Art und Weise, wie Masken sie verfeinert oder auch m anipuliert hat, nicht in einem Satz zusa mm enfassen. Aber im Grunde läuft es auf eines hinaus: Es gibt keinen Gott, denn der Mensch selbst i s t Gott! Die Menschen haben sich die Religionen erschaffen, weil sie nicht den Mumm haben, ihr eigenes Handeln zu bestimmen und ihr Schicksal selbst in die Hand zu neh m en. Gelingt es einem einzelnen Menschen aber, sich über diese angeborene Feigheit hinwegzusetzen und seinen eigenen Zielen zu folgen, nach seinem eigenen W ohl zu streben, dann erhebt
er sich üb e r alle an de ren. Alles liegt in s e i n er Hand: Schicksal, Bestim m ung, Handeln. Er wird zum perfekten Egoisten – und zu einer Art Gott.«
Chiara wollte widersprechen, aber Elohim hob die Hand und schnitt ihr das W o r t ab. »Vergessen Sie den ganzen religiösen Mu m pitz. Worauf es ankom m t ist nur eines: Derjeni g e, der Maskens Theorien in die Tat u m setzt, ge h t über Leichen, um seine Ziele zu erreichen. Er schaut nicht nach rechts und nicht nach link s , er walzt alles nieder, was ihm in den W eg gerät … Nun, erinnert Sie das an je m anden ? «
»Jula ? «
»Sie wurde wie
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