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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Erwarten Sie nicht zu viel. Das  Material ist nicht montiert, es sind nur ein paar lange  Einstellungen – oder Reste davon.«
    »Und wo? Bei Ihnen zu Hause ? «
    »Um H i mmels willen! Ich werde m i ch hüten, die Rollen bei m i r aufzubewahren. Außerdem habe ich keinen Vorführraum – ich bin nicht so wild darauf wie m anche andere, m eine eigenen Fil m e w i eder und wieder zu sehen.«
    » W o dann ? «
    Elohim schaute sich erneut u m , senkte die Stim m e und beugte sich vor. Chiara konnte das Aro m a des Whiskeys in ihrem Atem riechen. »Kennen Sie den alten Rum m elplatz an der Stradivaristraße ? «
    Chiara schüttelte den Kopf.
    »Er liegt zie m lich weit draußen«, sagte E l ohim und erkl ä rte ihr, welche St ra ßenbahnlinien sie nehmen m usste, um dorthin zu gelangen. Sie würde m ehrfach u m steigen müssen. »Benutzen Sie keinen W a gen. Ich will nicht, dass der Fahrer irgendwem erzählen kann, wohin er Sie gebracht hat. Erschrecken Sie nicht, we n n Sie dort ankommen. Die Gegend ist zie m lich heruntergekommen, und der Platz … na ja, Sie werden’s sehen. Es gibt dort ein alt e s Fil m zelt, e i nen di e ser Vorläufer der Kinos, wo früher die ersten Fil m e vorgefüh r t wurden. Können Sie sich daran noch erinnern?«
    Chiara nickte.
    »Sie werden dort so ein Zelt finden. Dem Vorführer können Sie vertrauen, er bewahrt das Material für m i ch auf. Ich gebe ihm Bescheid, dass Sie kom m en.«
    » W erden Sie denn nicht da sein ? «
    »Ich werd’s versuchen, aber ich kann es nicht versprechen. Dreharbeiten«, sagte sie seufzend. »Seien Sie einfach gegen acht Uhr m orgen Abend dort, oder ist das  zu früh ? «
    »Nein.«
    »Gut. Sagen Sie dem Mann am Eingang, ich hätte S i e geschickt. E r wird Sie erwarten.«
    Chiara tra n k ihren kalt geworde n en Kaffee aus. I h re Hand zitt er t e. Als sie die Ta s se wieder absetzte, schepperte die Untertasse. »W as i st auf d em Film m aterial?«
    »Lassen Sie sich überraschen.«
    »Ich m ag keine Überraschungen.«
    Elohim lächelte rätselhaft. »Ab mo r gen werden Sie sie vielleicht zu schätzen wissen.«
     
      
      
      
    Neunz e hn
     

    Regen, der zu kalt war für den Sommer, wurde Chiara vom W i nd ins Gesicht getrieben. Sie hatte den Mantel übergezogen, m it dem sie da m als nach Berlin gekom m en war, das schlichteste Kleidungsstück, das sie besaß. Hier draußen, in den Randbezirken der Stadt, wo irgendetwas den Straßen, den Häusern, sogar den Menschen die Farben aussaugte, war der Mantel in s einem abgeriebenen Braun die pas s en d e Gardero b e. Sie hatte ihn jahrelang getragen, ohne sich etwas dabei zu denken, aber jetzt fühlte sie sich da m it wie verkleidet. Sie hatte ein Kopftuch umgebunden, in der Hoffnung, da m it nicht erkannt zu werden.
    Gegen halb acht war sie an der letzten Straßenbahnhaltestelle ausge s tiegen, in einem Pulk von Männern und Frauen, die sich zügig in alle Richtungen zerstre u t en. W enige Minuten s päter hatte sie d en Rum m elplatz bereits zu ihr e r Rechten liegen sehen. Nur war da von Rum m el keine Spur.
    Das Areal, auf d e m m a n ein paar Zelte, ein Karussell und eine Hand voll Bretterbuden aufgebaut hatte, war Teil eines brachliegenden Geländes zwischen hässlichen Mietskasernen. Außer strup p igem, braun gebranntem Unkraut wuchs nichts zwischen den Erd- und Schotterflächen. Hier und da stachen verrostete Metallteile aus dem Boden, Anzeichen dafür, dass hier etwas gestanden hatte, das vor lang e r Z e it abg e ris se n worden war.
    So weit sie sehen konnte, gab es keine weiteren Besucher. Nicht einmal Kinder trieben s i ch um diese Uhrzeit hier heru m . Die m eisten Buden waren verriegelt, die Zelte zugezurrt. Das Karussell bestand aus grob  geschnitzten Pferdefiguren; aus m e hreren hatte m an m it Messern die Augen g e kratzt, ein anderes besaß keinen Kopf m ehr. Der Betreiber s a h aus wie ein verkom m ener See m ann, m it gestreiftem Matrosenhe m d und Kapitäns m ütze. Er war gerade dabei, die Li chter zu löschen, und warf ihr einen B lick zu, den sie lieber nicht deutete. Sie hätte ihn gerne nach dem Fi l m zelt gefragt, ging dann aber stumm an ihm vorbei und spürte die Glut seiner Augen in ihrem Rücken.
    W i e sich zeigte, war es nic h t nötig, sich nach dem W eg zu erkundigen. Das Zelt, das sie suchte, stand in einer Ecke des Platzes. Es sah aus wie ein zu klein geratenes Zirkuszelt, m it ein e m gestu f ten Dach, das auf m ehreren Stangen ru h t e. Der St o ff war ei n

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