Das zweite Gesicht
voneinander, zog sie sanft zur Seite. Noch immer war das Antlitz der Medusa verdeckt; erst wenn sie den Schleier hob, würde sich ihre Macht offenbaren und alle, die sie ansahen, würden zu Stein erstarren.
Die Einstellung endete, bevor Julas Finger die Kettchen berühren und den Schleier lüften konnten.
Die Ko m p arsen am Boden ließen voneinander ab, entspan n ten sich; ei n i ge lac h te n , andere bedeckten verschä m t ihre Blößen m it den H ä nden. Jula aber behielt ihre Pose bei, wie ein Auto m at, dessen A ufziehuhr abgelaufen war.
Dann begann alles von neue m , kaum m erklich variiert, lediglich m it m ehr Bewegung im G e w i m m el der Medusenan b eter.
Chiara fiel es schwer, die Szene an einer St el le jener Handlung einzuordnen, die Henriette ihr vor Monaten erzä h lt hatte. Sie ver m utete, d a ss es sich um den hinteren Teil des Fil m s handelt e : Die Medusa hatte s i c h an ihren Feinden gerächt und war zu einem Objekt der Verehrung geworden; s i cher weil m an sie fürchtete, aber auch, weil die Gewissheit des T odes, die von ihr ausging, die Menschen erregte und in einen apokalyptischen Rausch versetzte.
Eine neue Szene, off e nbar der Anschluss an die erste: Diener in o rie n t alischen Kostü m en schlep p t en eine halb nackte Gestalt m it willenlos gese n ktem Kopf die Stu f en zum Altar em por. Alles ge f il m t als Totale, die bevorzugte Einstellung des Monumentalfi l m s. Die schlec h te Qualität des Materials m achte es schwer, w eitere E i nzelheiten zu erkennen.
Der Mann wurde zu F üßen der Medusa in die Knie gezwungen. Schnitt. Die Szene begann von neuem, wurde drei m al wiederholt. Dann der Sprung in eine Nahaufnah m e: Der Gefangene hob kraftlos den Kopf.
Es war Jakob.
Sein Anblick ging Chiara durch Mark und Bein. In dem kurzen M o m ent, als er aufsah und die Medusa über sich erkannte, zuckten unterschiedliche Gefühlsregungen über sein Gesic h t: Er s chr e c k en, Panik, dann Resignation vor dem Unausweichlichen.
Es gab kei n e Erleic h t erung kurz v o r dem Schnitt, kein Aufa t m en. Jakobs Gesicht blieb eine erstarrte Maske. Dann brach die Einstellung ab, sie w urde nic h t wiederh o lt.
Das nächste Bild, eine Totale von Jula und dem Gefangenen. Einer der T e m peldiener ri s s seinen Kopf brutal am Haar nach hint e n, ein anderer zwang ihn, den Mund weit zu öffnen.
Er i s t das letzte Op f er der Medusa, dachte Chiara. Er hatte ihr n i e erzä h lt, da s s er in d em Film m itgespielt hatte. Hatte er nicht behauptet, Masken kaum zu kennen? Und
Jula überhaupt nicht?
Jula hielt plötzlich eine gläserne Karaffe in der Hand. In einer langsa m en Bewegung hob sie das Gefäß m it ausgestrecktem A r m über Jakobs Gesicht. Der Gefangene stra m pelte kurz, wurde aber von seinen Bewachern auf den Knien gehalten. Jula kippte langsam die Karaffe und goss den Inhalt in Jakobs offen e n Mund. Flüssigkeit spritzte über sein Gesicht, seine Schultern, sprühte über die Te m peldiener und den Boden, während Jakob versuchte, den Mund zu schließen, gegen den Griff seines Peinigers a b er kei n e Chance hatte.
Endlich war die Karaffe leer. Jakob m usste m i ndestens die Hälfte der Flüssigkeit ges c hluckt haben, auch wenn sie im m er no c h aus seinem Mund übers Kinn und seine nackte Brust quoll.
Die Medusa gab die Karaffe einem Diener, der ihr im Austausch eine bren n e n de Fackel reichte.
Chiara h ö rte hi n t er sich ein Rascheln. W ahrscheinlich war der alte Mann aus seiner Kabine gekommen und hatte auf einer der hinteren Bänke Platz genom m en, um den Rest der Vorführung ge m eins a m m i t ihr anzuschauen.
Jula hielt die Fackel m it e r hobenem A r m über sich in die Luft und sprach zu der Menge. Chiara ver m utete, dass die Ko m parsen bei dieser Einstellung gar nicht anwesend waren, denn der Bildausschnitt war zu eng, um sie zu zeigen. Doch als hätte je m and ihre Gedanken geahnt, begann die K a m era in diesem Augenblick langsam rückwärts zu fahren. Die vorderen Reihen der nackten Menschenmasse ka m en ins B ild, zu viele Männer und Frauen, um sie im Einzelnen wahrzuneh m en.
Die Medusa senkte lang s am die Fackel.
Jakob wehrte sich, aber das Schlucken der Flüssigke i t hatte ihn geschwächt, seine Bewegungen wirkten fahrig
und unkontrolliert.
Noch im m e r gab es k einen Sch n itt, a ll e s w a r eine einzi g e lan g e Einst e llu n g.
Die Medusa ram m te die brennende Fackel in Jakobs Gesicht.
Chiara zuckte zurück. E i n
Weitere Kostenlose Bücher