Das zweite Gesicht
m er die »Lebenden Fotografien« aus der Frühzeit des Fil m s oder ganze Streifen, die in den großen Lichts p i elhäusern niemand m ehr sehen wollte und schließlich an Orten wie diesem hier landete n ? W ürden auch ihre eigenen Fil m e irgendwann nur noch hier gezei g t werden – verkratzte, vielfach geklebte Kopien, auf denen die Schauspieler nur noch als blasse Sche m en zu sehen waren?
Einer ihrer Regisseure – war es Masken gewesen? – hatte ein m a l gesagt, er sei Künstler geworden, weil er nicht akze p tieren wolle, verge s sen zu werden wie die m eisten anderen Menschen. W enn nur ein Einziger in hundert Jahren auf einen seiner Fil m e stieße und etwas darin fände, das ihm g e fie l , dann sei das Lohn genug für ein ganzes Leben in diesem Geschäft.
Chiara ka m en jetzt Zweifel, ob das auch für Schauspieler galt. W enn ihre Fil m e zu guter L e t z t auf Leinwänden wie dieser gezeigt wurden, wo a lte Projektoren und m i serable Lichtverhältnisse sie alle zu Gespenstern reduzierten, die sie sich w i e Erscheinungen durch graues Zwielicht bewegten, dann war das sicher nicht die Form von Weiterleben, die dem R e gisseur vorschwebte.
Der alte Mann rief etwas aus der Dunkelheit, gedä m p ft durch ei n e weitere Plane. Ein Rattern setzte ein, dann flammte das Licht des Proje k tors über sie hinweg und schnitt ein verschwom m enes Rechteck in die Dunkelheit auf der Leinwand.
Die Aufnah m en waren schwarzweiß, nicht eingefärbt wie die m eisten Fil m e, die in die Kinos ka m e n. Es gab keine Schnitte, nur lange Aufnah m en, die bereits begannen, bevor sich die Schauspieler in Bewegung setzten, und erst endeten, nach de m sie sich alle zum Regisseur u m gewandt hatten und auf seine Meinung warteten.
Das erste Bild zei g t e J u la.
Chiara u n terdrüc k te e i n Schaudern. Sie hatte ihre Schwester z ulet z t auf d er Leinwa n d gesehen, als M asken ihr die abgedrehten Szenen aus Der Untergang des Hauses Usher vorgeführt hatte; jene Sequ en zen, die er s päter m it Chiara in d e r Rolle der Madeline noch m al gedreht hatte. Jula jetzt er n eut zu se h e n , erschreckte sie.
Ihre Schwe s ter stand i n m itten einer Kulisse, wie Chiara noch keine zweite gesehen hatte. Henriette h a tte i h r von dem babylonischen T e m pel erzählt, der während der Dreharbeiten in Flam m en a u fgegangen war, und ihre Worte hatten die üblichen Bil d er in ihr heraufbeschworen: Säulenreihen, Treppenstufen, die zu einem Altar führten, schwere Vorhänge und Kerzenleuchter. W as sie jetzt sah, war all das und noch weit m ehr. Maskens Fil m architekt und seine Ausstatter hatten sich selbst übertroffen. Dies war das wahre Babylon, gleichzeitig Sodom und Go m orrah, ein uner m esslicher Prunk, der selbst in diesen un m ontiert e n, sich immer wieder in leic h t en Vari a tionen wiederholenden Einstellungen ein Bild von Stein gewordener Sünde m alte, von Exzessen und grenzenloser Gier. Eine Kunstwelt in einer Kunstwelt: Der Te m pel stellte a u ch im Film nur etwas dar, sollte ein dekadentes Bordell im heutigen Berlin s ein. Doch in die se n Augenblicken des Staunens war er für Chiara vor allem eines: Die architektonische Verkörperung von Maskens Maßlosigkeit.
Gegen Jula aber, die von einem Heer nac k ter Menschen angebetet wurde, verblasste der ganze Po m p zu schnödem Beiwerk.
Sie trug ein schim m erndes Kleid, besetzt m it S c huppen, Perlen, Ringen und Bändern. Die Projektion war zu dunkel, das Bild zu blass, doch selbst auf dieser Leinwand stra h lte Jula, als hätten Maskens Scheinwerfer sie in ein überirdisches Licht getauch t , so s t ark reflektierte d er m etallische Glanz ihres Gewandes. A u s einem Kopfsch m u c k aus Gold oder Silber wandten sich ar m l ange Schlangen nach oben. Ein Vorhang haarfeiner Kettchen fiel über ihr Gesicht, ließ seine Konturen nur erahnen und ver f re m dete es zum Antlitz ei n er a rc h aischen Göttin.
Zu Beginn der Einstellung kauerte Jula m i t vorgebeugtem Oberkörper auf d e m Altar und streckte dem Zuschauer d i e Schlang e n entgegen. Dann glitt d i e Ka m era all m ählich zurück, offenbarte d as gesa m t e Szenario d es Te m pelbordells – hunderte von blo ß en Leibern, die sich in einer ekstatischen Orgie am Fuß des Altarpodests wanden. Jula erhob sich langsam und bot sich allen in ihrer ganzen Pracht dar, die Hände m it gespreizten Fingern in einer tänzerischen Geste vor dem Gesicht verschränkt. Dann, ganz langsam, löste sie die Finger
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