Das zweite Gesicht
verderben wollte.
Die grüne Fee hatte sich längst verabschiedet, die Absinthflaschen waren leer, und die Zeiger auf der Standuhr aus weißlackierter Eiche schienen sich rückwärts zu drehen, während Chiara benommen zusah. Maria hatte ihr Gesicht irgendwann in Maskens Schoß vergraben und ließ nur von ihm ab, um ein Versprechen in Iwans Richtung zu säuseln. Edgar schlief mit offenen Augen und erwachte zwischendurch, um Obszönitäten zu murmeln, während Ursi Stellen aus einem Drehbuch rezitierte, das zu einem ihrer Filme gehören mochte oder frei erfunden war. Hermann kniete am Boden und verbeugte sich ab und an lallend in Richtung der Korridortür wie ein Moslem auf seinem Gebetsteppich; irgendwann realisierte Chiara befremdet, dass seine bizarre Verehrung Nette galt, die durch die Tür aus und ein ging, gebrauchte Gläser gegen frische austauschte, neue Kerzen in die wachsbetropften Halter steckte, leere Ampullen und Spritzen entsorgte und sich bemühte, ihre Abscheu und ihren Ekel nicht offen zu zeigen. Chiara spürte den Anflug eines schlechten Gewissens: War es nicht genau das, wovor das Mädchen geflohen war? Aber der Gedanke verflog so rasch, wie er aus den Tiefen ihres verschleierten Bewusstseins aufgetaucht war, und dann rief Hermann unter dem Gegröle der übrigen Männer: »Ich will sie jetzt ficken!« Chiara sah, dass er plötzlich den diamantenbesetzten Revolver in der Hand hielt, mit dem er von Ursis Dach aus auf Tauben geschossen hatte. Sie sah, wie er taumelnd auf die Beine kam und zur Tür hinaus schwankte. Sie wollte ihn zurückrufen, doch ihre Lippen öffneten sich nicht, als hätte der Absinth sie zusammengeklebt. Sie versuchte aufzustehen, aber auch das gelang ihr nicht. Zuletzt versuchte sie es mit einem flehenden Blick in Maskens Richtung, doch der befand sich immer noch in der Obhut Marias, deren blondes Haar auf seinen Oberschenkeln ausgebreitet lag wie eine goldene Serviette. Er hatte die Augen geschlossen, aber er lachte, als hätte ihm jemand gerade einen besonders guten Witz erzählt; vielleicht Maria, aber dann hätte er da unten Ohren haben müssen. Chiara fand diese Vorstellung so unglaublich komisch, dass sie in sein Lachen mit einfiel und für einen Augenblick sogar Nette vergaß und Hermann und das, was gerade in der Küche passieren mochte.
Als die Erinnerung zurückk e hrte, tat sie es m it der Wucht eines Mörser g ranate: Sie sc hlug einen Krater in Chiaras Rausch, aus dem sie für einen Mo m ent die W elt um sich herum in all ih r er Sc h eußlich k eit sah. F ü r Sekunden begriff sie, was ges c hah, sie sah sich selbst u m geben von Leuten, die sie nie m als Freunde genannt, aber im m er wie welche behandelt hatte.
Und sie hörte die Schreie aus der K ü che.
Mit ei n em Ruck stieß sie sich vom Sofa ab, k a m schwankend auf die Füße und lief zur Tür. Masken versuchte noch, nach ihr zu greifen, und dann hörte sie Schritte hi nt er sic h : Iwan war au f gestanden und f olgte ihr in einigen Metern Abstand. Er m achte keine A nstalten sie festzuhalten, ließ aber k einen Zwei f el, dass er wegen ihr
aufgesprungen war, nicht wegen Nette oder Her m ann. Ein Schuss peitschte.
Maria verschluckte sich und bekam ei nen Hustenanfall. Edgar erwachte und brüllte »Feuer! Feuer!«
Ursi brach in Tränen aus und kicherte dabei.
Und Iwan legte von hinten einen A r m um Chiara und wollte v er h indern, da s s sie in die K üche ging. »Nicht!«, flüsterte er ihr m it Alkoholatem ins Ohr, aber sie schlug blindlings m it der Faust nach hinten und erwischte ihn irgendwo am Unterleib. Das l o ckerte sei n en Griff im m erhin so weit, dass sie sich losreißen konnte.
Nette p res s t e den Rücken an ei n en Küchen s chrank, stocksteif und m it angstvoll verzerrtem Gesicht. He r m ann hatte eines der Fenster geöffnet und legte gerade zum zweiten M al auf et w as im Garten an. D urch den Lichtsc h ein, der aus dem Haus ins Freie fiel, sah Chiara eine Katze huschen, dann krac h te ein zweiter S chuss. Sie lief zu Nette, packte sie am A r m und zog sie hinter sich wie eine Mutter, die ihr Kind beschützt. Iwan kam in die Küche, schaute sich u m , sah nicht das, was er erwartet hatte und blieb stehen.
»Tu die Scheißwaffe weg«, brüllte Chiara Her m ann an, aber der grinste nur über h eblich und versuchte, den Revolver ein m al um den Zeigefinger zu wirbeln. Die Dia m anten funkelten und erzeug t en einen flirrenden Kreis um seine Hand; dann rutschte die Waffe ab, flog durch
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