Das zweite Gesicht
schl u cken, und schließlich zogen sich Hände und Flasche zurück, und m an ließ sie in Ruhe am Boden liegen, wohl überzeugt, dass sie sich vorerst nicht regen w ürde. Iwans Stöhnen drang durch ihre Handflächen in ihren Kopf, so als läge er auf ihr, nicht auf dem Mädchen, und dann hörte sie Schreie, die – o Gott – von Nette stam m t en, Sch m erzensschreie, als Iwans Stöße ihre Resignation und stum m e St a rre durchbrachen und sie in ein Bündel aus Sch m erz und Erniedrigung verwandelten. Chiara konnte Nettes Pein und Verzweiflung spüren, als wäre es ihre eigene, und dann sah sie, dass Iwan sich von Nette zurückzog und den W eg frei m achte für Masken, der sich vollständig ausgezogen hatte, a l s w ollte er in a ll diesem Chaos auf einer seltsa m en Fo r m von Anstand beharren, nicht m it halb heruntergelassener Hose, sch m utzigen Schuhen und blutbeflecktem H e md über Nette herfallen, sondern ihr auf wahnwitzige A r t Respekt zollen, indem er sich für sie auszog. Chiara e r wartete fast, dass er sei n e Sachen säuberlich ge f alt e t und seine Schuhe akkurat nebeneinander gestellt hatte. Verzei h en Sie, mei n e Dame, ich denke, die Reihe ist j e tzt wohl an mir; wenn Sie gestatten würden …
Sein Gesicht war im m er noch eine blutversch m i erte Fratze, und Chiara m u sste pl ö t zlich an all die Kinder denken, die er und seine Freunde m i ssbraucht hatten. Leas Erzählungen schienen ihr jetzt nicht m ehr fadenscheinige Gerüchte aus der V ergangenheit, sondern konkrete Anschuldigungen, und sie fragte sich, wie sie überhaupt je ein W ort m i t Masken hatte wechseln können, ohne ihm ins Gesicht zu spucken.
Wenn Sie gestatten würden …
Nette sc h rie erneut, u n d Chiara v ersank end g ültig in haltloser Hyste r ie. Etw a s traf s i e im Gesicht, Iwans Hand, dann ließ man sie in Frieden, und keiner achtete auf sie, als sie sich auf allen Vieren z u r Tür schleppte. Im Vorbeikriechen sah sie Ursi in der Küche liegen und m it dem Finger Figuren in eine Pfütze aus Erbrochenem m alen; sie nahm Chiara nicht wahr, genauso wenig wie die Schreie aus dem W ohnzimmer oder das Keuchen und Lachen der Männer.
Chiara e rr e ichte die H a ustür, zog s i ch an der Klinke hoch und stolperte nach draußen. Die kalte Nachtluft saugte s i e wie ein Vakuum ins Freie, d er Kies knir s chte leise und die Birken wisperten anklagend.
Jula lachte in ihrem Rücken.
Chiara fuhr heru m , verlor ihr Gleichgewicht und fiel auf die Knie, di es m al so sch m erzhaft, dass i h r ein Aufschrei entfuhr.
Hinter ihr war nur das Haus, nicht ihre Schwester. Ein weißer Märchenpalast vor dem Schwarz der Nac h t.
Sie kam wieder auf die Beine, s t olperte, fi n g sich wieder, rannte. Erreichte das Tor, hinaus auf die Straße, allein in der Dunkelheit, allein m it der Schuld.
Zweiundzwanzig
Später fand sie Her m a nns Revolver in ihrer Tasche. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie den Mantel angezogen, geschweige denn, die Waffe eingesteckt hatte. Mit dem Revolver hätte sie Nette retten können, sie hätte He r m ann den Kopf wegpusten können, sie hätte …
Aber sie hatte nicht.
Hatte schlichtweg gar nichts getan. War nur fortgelaufen, vor den anderen, vor sich selbst.
Ziellos stolperte sie durch d i e Nacht, bis irgend w ann ein Wagen neben ihr hielt, dessen F ahrer anbot, sie ins Krankenhaus zu bringen. Sie sagte ih m , sie wolle in kein Krankenhaus (und m usste dabei lachen), ob er denn nicht ihren Zustand sehe und tat s ächlich glaube, dass sie so unter Leute gehen würde; sie habe einen Ruf zu verlieren, und er solle sich davonmachen, wenn er nichts Besseres zu tun hätte, als sie zu b elästigen. Als Nächstes sah sie sei n e Rücklichter in der Ferne, aber ihr war, als wären es Raubtieraugen, die sie aus der Dunkelheit beobachteten.
Der nächste W agen, der anhielt – viel später, auf einer stark befahrenen Straße –, war ein Taxi. Sie warf d e m Fahrer eine Hand voll G eld in den S choß und nannte ihm Elohi m s Adresse. Der Mann blickte während der Fahrt wortlos nach vorne; er erwiderte auch nicht i h ren Abschiedsgruß, als sie ausstieg.
Das Tor zur Auffahrt war verschlossen, im Haus brannten keine Lichter. Das dreistöckige Gebäude lag in einem dichten Ring aus Buchen und Eiben, die es fast gänzlich von der Straße abschotteten. Sie rief über den Zaun Elohi m s N a m en; als nie m and antwo r tete, ent s chi e d sie, kurzerhand über das Tor zu
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