Das zweite Gesicht
geschehen? Noch e r innerte sie sich, aber die Bilder waren diffus geworden, die Stim m en verworren, das Geläc h ter leise, d i e Schreie …
Sie hielt noch im m er den Hörer in der H and und überlegte, ob dies der Zeitpunkt war, endlich die Polizei zu rufen. N e in, es war schon zu spät gewesen, als sie noch zu Hause war, aber jetzt? Keiner würde Nette a u ch nur ein Wort glauben. Masken würde behaupten, er habe sie im Scheunenviertel aufgelesen. Er ha b e sie bezahlt, würde er sagen, was sie denn eigentlich erwartet habe? Ei ne simple Dienstleistung, Sie verstehen, Herr Kommissar?
Und was, wenn die Sache bekannt wurde? W ürde sich irgendwer einen Dreck um die W ahrheit scheren? Es war Chiaras Haus. Ihre Geburtstagsfeier. Und zweifellos würde Ma s ken es so d rehen, dass es i h r Rau s chgift, i h r Absinth und ihr Revolver war, aus dem gefeuert worden war. Gott, sie trug das Ding sogar bei sich und hatte gerade eine Frau da m it bedroht!
Und dann kam ihr ein Gedanke, für den sie sich m ehr hasste als für jede andere Verfehlung, jeden Betrug und jede Lüge in ihrem Leben. Sie ist ei n e Nutte, hatte Masken gesagt. Ein Flittchen. Sie hat das schon tausendmal gemacht. Zehntausendmal.
Und hatte er nicht Recht d a m i t? W elchen Untersc h i e d m achte es für Nette, ein m al m ehr die Beine breit zu m achen?
Jeden, sagte eine Stim m e tief in ihr. Keinen, redete sie sich ein.
Sie legte den Hörer zurück auf die Gabel, und zum ersten M a l, seit sie die Villa ve r l as s en hatte, zitterten i h re
Knie wieder. Im Neb e nzim m er g a b die Schwester kein Lebenszeichen von sich. Chiara eilte zum Au s gang, die Treppen hinunter und schließlich hinaus auf die Straße.
Schräg gegenüber befand sich eine Uhr auf ein e m Eisenge s t ell, dessen vier Seiten m it Plakaten bekle b t waren. Zehn vor drei. Sie wusste, w as sie jetzt tun m usste. Sie hatte es schon ein m al getan, hatte es aber nicht zu Ende gebracht. Heute Nacht würde sie das nachholen. Etwas sagte ihr, d ass di es die letzte Möglichkeit war, die Wahrheit herauszufinden. Nic h t nur, weil Masken m orgen f rüh seine Verschl e ier u ngs m aschinerie in Gang setzten würde. Viel m ehr fürchtete sie, dass es für sie selbst die let z te Chan c e war. Ob es an ih r em Rausch lag, d ass sie die Dinge für eine kurze Zeit in einer neuen, beinahe irrealen Klarheit sa h ? Oder an d en Schrecken dieses A b end s ? Für einen kurzen Mo m ent spürte sie, wie der Kokon aus Ich- bin-wichtiger-als-ihr, den sie in den vergangen Monaten um sich gewoben hatte, fadenscheinig wurde, nicht aufriss, aber ihr ein wenig m ehr von der Außenwelt zeigte. Ihr gefiel nicht, was sie sah. Aber es m achte sie neugierig.
Sie brauchte m ehr als zwanzig Minuten, um ein Taxi zu finden, das sie m itnahm, und als sie einstieg, dachte sie, dass sie den W eg in dieser Ze i t v i e l l e i c h t so g ar zu Fuß geschafft hätte.
»Zum Gütergelände hinter dem Anhalter Bahnhof. Ich sag Ihnen B escheid, wo Sie abbiegen m üssen.«
*
W i eder sah sie Bewegungen im Dunkel d e r Abstellgl e is e . Gestalten huschten durch die Dunkelheit und verschwanden, bevor der Schein der Autola m pen sie erfassen konnte. Das Donnern schwerer W aggonräder
wehte über das Gelände und übertönte sogar den Motore n l ä r m des Automobils.
Der Fahrer erkundigte sich nervö s , ob sie sicher sei, dass sie hierher wolle, und sie sagte, nein, sie hätte die Gegend offenbar m it dem Tiergarten verwechselt, denn eigentlich habe sie die Affen füttern wollen. Da zog er es vor zu schweigen und setzte sie w i derspruchslos vor Maskens Haus ab. Der W agen w a r fort, ehe sie sich überzeugt hatte, dass alle Fenster des Gebäudes dunkel waren und Maskens Auto nicht vor der Tür stand.
Fröstelnd schaute sie über die Schulter, fingerte den Schlüsselbund aus ihrer Man t elta s che – d e r Met a ll r ing hatte sich am Lauf des Revolvers verhakt. Ihr k a m der Gedanke, wie unglaublich ko m isch es doch wäre, wenn sie sich versehentlich ins Bein schießen und hier liegen würde, bis Masken ei nt raf.
Dass er nicht zu Hau s e war, be d eutete, dass er s i ch ver m utlich noch im m er in der Villa an der Krum m en Lanke aufhielt. Die Party ging weiter, auch ohne das Geburtstagskind. Die Männer hatten die Torte angeschnitten und waren ver m utlich immer noch dabei, sie aufzuessen.
Sie würgte, und zum ersten Mal an diesem Abend übergab sie sich. Aus dem Augenwinkel glaubte sie
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