Das zweite Gesicht
Die Schwester wollte sie wegziehen, a ber Chiara schenkte ihr einen Blick, von dem sie hoff t e, dass er mörderisch wirkte. Dem war off e nbar nicht so. Die Frau griff nach dem Telefon, und Chiara bekam Gelegenheit, gleich noch etwas zu tun, das sie bereits in einem Fi l m geübt hatte – das Kabel aus dem Apparat zu reißen. W as im Atelier sehr einfach gewesen war – Arbeiter hatten das Gerät zuvor präpariert –, erwies sich hier als un m öglich: Das Kabel saß zu fest.
Ehe sie selbst begriff, was sie tat, zog sie den dia m antenbesetzten Revolver aus der Manteltasche. »Tut m i r Leid«, sagte sie, »ich will Ihnen nichts tun.« Sie überlegte, wie glaubwürdig sie selbst das wohl gefunden hätte, wenn je m and i m Drogen- und Alkoholrausch m it so einem Ding vor ihrer Nase heru m gefuchtelt hätte. Dies m al klang ihr Kichern sogar in ihren eigenen Ohren irre.
Die Nachtschwester starrte sie ungläubig an – wie oft wird m an von einem F i l m star m it einer W affe bedroht? –, fügte sich aber dann und li e ß sich von Chiara in einem fensterlosen Raum hinter d e r Rezeption einsperren. Es gab keinen Schlüssel, aber Chiara hoffte, dass der alte Kniff m it der Stuhllehne unter der Klinke im wahren Leben besser funktionierte als der Kabeltrick.
Die Klinik hatte nur zehn Einzelzimmer, alle in diesem Stockwerk. Der Operationssaal und die Behandlungsräu m e befanden sich in der E t age darüber. Um keine Zeit zu ve rl ieren, sc h a u t e sie in a l le Zimmer, entsch u l digte sich bei jede m , der erwachte, und schloss leise die Türen hinter sich.
Im sechsten Zimmer wurde sie fündig.
Elohim wachte nic h t auf, als Chiara den Raum betrat. Es half auch nicht, sie anzusp r echen, ebenso wenig wie eine Berührung an der Schulter. Die S chwellungen in ihrem Gesicht waren längst abgeklungen, hier und da waren noch ein paar bläuliche Punk t e zu sehen. W e s halb auch im m er m an sie in die Klinik g ebrac h t hatte – d i e Wespenstiche waren gewiss nicht der Grund.
Chiara befürchtete, da s s die Nachtschwester n i cht d i e Einzige war, die um diese Uhrzeit Dien s t hatte. In irgendeinem Raum schlief ver m utlich ein Arzt, und m i t jeder Minute wuchs die Gefahr, dass er erwachte und Chiara e n td e ckte.
»Es tut m i r so Leid«, flüsterte sie Elohim ins Ohr. Der Brustkorb der Diva hob und senkte sich, sie lag in tiefer Narkose.
Chiara sc hl ug die Decke zurüc k , zog das war m e Nachthe m d über Elohi m s Schenkel nach oben und entblößte ihren Bauch.
Die Narbe war frisch, die Fäden noch nicht gezogen.
Die gleiche Länge, die g l eic h e Stelle.
Torben, sie selbst und nun auch Elohi m . W e r noch? Und, gottverdam m t, waru m ?
Sie zog das Nachthe m d wieder zurück und schob die Decke nach oben. Ich s ollte nic h t h i er sein, da c hte s i e in einem Anf l ug von Panik. Vor ihrem inneren Auge zog eine endlose Reihe funkelnder Operationsbestecke vorüber, A m pullen m it unbekanntem Inhalt und Kanülen, auf denen das Licht anony m er OP-Säle blitzte.
Draußen auf d e m Flur, hin t er der Rezeption, be g ann das Telefon zu klingeln. W ar das vielleicht Elohi m s Sekretärin? Das Mädchen vom A m t würde aufgeben, wenn sich nach einer gewissen Zeit nie m and m eldete. Aber vielleicht würde es bes o rgt s e in, dass in einer Klinik nie m and abhob. W o möglich würde es je m anden alar m i eren.
Und m usste der Dienst habende Arzt sich nicht wundern, dass der Apparat so lange klingelte? Stür m t e er vielleicht gerade in diesem Mo m e nt hinaus auf den Korridor?
Chiara versuchte, sich z u sam m enzuneh m en. Sie hauchte Elohim einen Kuss auf die Stirn, dann m achte sie das Licht aus und schaute durch d e n Türspalt nach draußen. Nie m and da.
Das Telefon klingelte ohne Unterbrechung.
Sie schlüpfte aus dem Zimmer, zog die Tür hinter sich zu und eilte den Flur hinunter. Das Klingeln hatte aufgehört, als sie die Reze p tion erreichte. Als sie d en Hörer abnah m , war nie m and a m anderen Ende der Leitung. Auch hinter der Tür des N ebenzim m ers herrschte Stille. Ei n e ent s et z lic h er Gedanke bran n t e s i c h in ihr e n Verstand: H atte sie der Nac h tschwester etwas angetan und erinnerte sich nicht m ehr d a ran? Im Rauschzustand, unter dem Einflu s s von Kokain und Alkohol, kam so etwas vor,
gar kein Zw ei f el. Sie hatte es schon bei anderen erlebt, und vielleicht war sie ja die Nächste.
W arum hatte sie ihr Haus verl as se n ? W as war im Wohnz i mmer
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