Das zweite Gesicht
m en sollte. Zudem war die Tür nic h t so solide, dass sie sich nicht m i t ein wenig Mühe selbst bef r eien konnten. Die Lehrerin würde ganz sicher einen Weg finden.
Der Abschied war kurz und aufseiten der anderen von Verwunderung bestimmt. Chi a ra hatte einen Kloß i m Hals, als sie sie flüchtig u m a r m t e und dann m it der Lehrerin zurückließ. Es war, als gäbe sie etwas von sich auf, ein Gefühl, das sie verwirrte und ängstigte.
Sie eilte ins Schla f zim m er und nahm einen au ff älligen Mantel m it goldu m stickten Aufschlägen aus dem Schrank. Außerdem wählte sie einen Hut, der groß genug war, ihr blondiertes Haar zu verbergen.
So ausstaffiert, verließ sie das Haus m i t allem Selbstbewusstsein, das sie noch aufbrachte, und ging die
Auffahrt hinunter. Die rechte Hand ließ sie in der Manteltasche, wo sich ihre Finger beschwörend um den Revolvergriff klammerten.
Die beiden Männer im Wagen auf der anderen Straßenseite blickten herüber, erkannten die Hausherrin und wunderten sich offenbar, dass sie das Grundstück verließ. Chiara hoffte inständig, dass Masken ihnen nicht aufgetragen hatte, sie festzuhalten. Einer m achte Anstalten auszusteigen, doch der and e re hielt ihn zurück und schüttelte kaum m erklich den Kopf. Er ließ den Motor an und fuhr in gebührendem Abst a nd hinter Chiara her. Sie dur f t e spazieren gehen, wenn sie das wollte. Aber m an würde sie nicht unbeobachtet lassen.
Chiara kannte die Gegend und wusste, wie sie ihren Verfolgern entkom m en konnte. Gebückt hetzte sie durch m ehrere Gärten. In einer Sei t enstraße, unweit der weißen Villa, wa r t ete Sager in einem Auto auf sie.
Sie sprang auf den Beifahrersitz, S ager gab Gas. Der Wagen bra u ste los, noch ehe s i e d i e Tür zugeschlagen hatte.
Sager sah, dass sie weinte, des h alb fragte er sie nicht s , als er den Weg zum Stadtzentrum einschlug.
» W issen Sie, wo die Yacht m einer Schwester vor Anker gelegen hat?«, fragte sie schließlich.
Als er den K opf schüttelte, beschrieb sie ihm den Weg.
Er bog an der nächsten Kre u zung nach links ab. » W as sollen wir dort finden ? «
»Sie überhaupt nichts. S etzen Sie m i ch einfach ab.«
»Kom m t gar nicht …«
»Das ist j e tzt nic h t mehr Ihre S a che. Gehen Sie zu Elohi m , ich denke, sie wird Ihnen helfen, wenn Sie die richtigen A rgu m ente f i nden. Und dann verklagen Sie
dieses Stück Scheiße.«
»Ich weiß nicht. Ich kann Sie doch nicht –«
»Dies m al schon. Das ist j e tzt nur noch eine Sache zwischen …« Sie verstum m te, weil es immer noch so falsch schien, so absurd.
Er sah fragend zu ihr herüber.
»Zwischen m i r und m e i ner Schwester«, sagte sie.
Siebenundzwanzig
Die Yacht lag unbeleuchtet in der Dunkelheit vor Anker, als schwe b te sie auf einem Kissen aus Nacht. Nur eine Signalla m pe brannte am B ug wie ein rotes, glühendes Auge. W ellen flüsterten unten am Ru m pf. Der Nieselregen gab den Ober f l ächen a us Holz und Stahl ei n en f ettigen Glanz, als wäre das Schiff gerade erst aus dem Magen eines W alfischs geglitten.
Chiara sch ä tzte die Y a cht auf eine Länge von vierzig Metern, obwohl das Heck im Dunkeln kaum auszu m achen war. Zwei m ächtige Schornst e ine do m inierten da s Oberdeck. Zw ei Ma s t en – ein e r im vorderen und einer im hinteren Teil – trugen keine Segel.
Eine Fahne bewegte sich in der F i nsternis, nicht vom W i nd, sondern vom R e gen, der den Stoff peitschte. Die Y acht fuh r un t er d ä n i s c h er F lagge, und doch gab es keinen Zweifel, dass es sich um Julas S chiff handelte. Chiara hatte Fotografien davon gesehen, und der Name am Bug nahm ihr den letzten Zweifel: Meiß e n.
Sager hatte sie widerwillig abgesetzt, ein paar hundert Meter vom Ankerplatz entfernt. Den Mantel hatte sie im Wagen gelassen, trotz der Kälte. Er hatte sie nicht a ll e in gehen lassen wollen, aber sie hatte seine Begleitung entschieden abgelehnt.
»Und kom m en Sie ja nicht auf die Idee, plötzlich aufzutauchen und den Helden zu spielen«, hatte sie gesagt, bewusst verletzend, aber das hatte ihm nur ei n kleines Lächeln entlockt. » W irklich, das ist m eine Ang e legenheit. Ich m uss das allein tun.«
Dabei hatte sie sich Mühe gegeben, so zu klingen, als wüsste sie ganz genau, was sie zu tun hatte. In Wahrheit war sie vollkom m en ahnungslos.
Der Ru m pf der Yacht war sch m u t zig, ver m utlich hatte sie e i ne w e ite R e ise hi nter sich. E i ne se h
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