Das zweite Gesicht
er gerade an der Innenseite vorbeigegangen war, er war jetzt nic h t m ehr zu sehe n . Stattdessen hörte sie nun Stimmen. Je m and schrie. Dann wurde der Stuhl plötzlich u m gerissen oder kippte.
Eine Tür wurde geöffnet. Das Knirschen von Scharnieren, rostig geworden in der Seeluft. Für Sekunden glaubte Chiara ein W i mmern zu hören, dann f i el die Tür wieder zu. Schritte! Je m and befand sich draußen auf d e m Oberdeck, g l eich h i nter der nächsten Ecke.
Chiara schaute s i ch pa nisch n ach einem Versteck u m , aber es gab keine Nische, nichts. Alles, was sie tun konnte, war sich m it dem Rücken zwischen zwei Fenstern gegen das Holz zu pressen.
Die Schritte verharrten. Ein l e i s er m etallis c her Laut, vielleicht eine Hand mit einem R i ng, die sich um das Geländer legte. Dann das S c harren eines Streichholzes. Trotz des R egens glaubte sie das gierige Inhalieren von Rauch zu hören, dann heftiges Ausat m en.
Chiara stand da wie m it der W a nd versch w eißt. S i e wagte nic h t, sich zu reg e n. Verdam m t , sie hatte eine Waffe! Sie war in keiner, schlechten Position. Keiner allzu schlechten P osition.
Wer immer dort drüben war, hinter der Ecke, an der Reling – er rauchte m it einer gewissen Verzweiflung. W as auch drinnen vorgehen m ochte, es hatte ihn m itgenommen. Oder a n gestrengt. Wo m öglich erregt.
Als ein zweiter gedämpfter Schrei ertönte, hatte s i e keinen Zweifel m ehr, dass im Salon je m and gefoltert wurde. Irgendwer ließ es nicht da m it bew e nden, sein Opfer nur festzubinden.
Langsam b e ugte sie sich nach rechts, um erneut einen Blick durch den Spalt zu werfen.
Im selben Mo m ent krachte etwas von innen gegen das Fenster. Mit einem dumpfen Laut schlug es gegen die Scheibe, kaum ged ä m pft von dem schwarzen Stoff.
Chiara zog den Kopf zurück – gerade noch rechtzeitig. Der Vorhang wurde beiseite gerissen. Licht ergoss sich über den Deckstreifen vor dem Fenster, riss das Gestänge der Reling aus dem Dunkel.
Chiara schloss für eine Sekunde die Augen.
Als sie die Lider wieder hob, war auch der Vorhang zu ihrer L i nken offen. Chi a ra selbst war durch den sch m alen Holzstreifen zwischen den bei d en Fenstern geschützt, aber
sie konnte sich weder nach rechts noch nach links bewegen, ohne von innen gesehen zu werden.
Ein Schatten zeichnete sich auf dem Boden ab. Je m and stand vor dem linken Fenster, ein verzerrter, sch m aler U m riss. Stand er m it dem Rücken oder m it dem Gesicht zum Glas?
Hatte sie sich durch irgendetwas verraten?
Ein Knarren, dann wurden die beiden Fenster gekippt. Ein scharfer Geruch drang an Chiaras Nase.
Verbranntes Fleisch.
Der Unsichtbare hinter der Ecke seufzte – dann waren aber m als Schritte zu hören, die Tür knirschte und fiel zu. Chiara war wieder allein a u f d e m Deck. Sie stand im m e r noch stocksteif gegen die W and gepresst, wagte nicht, sich zu rühren, bis der Schatten neben ihr schru m pfte.
»Er stinkt«, sagte eine männliche Stimme.
Sie kannte diese Stim m e , den leicht verächtlichen, nicht ein m al humorlosen Tonfall. Einen Augenblick lang drohten ihre Knie nachzugeben. Die nasse Kälte des Holzes drang durch ihre Kleidung, schnitt wie Glasscherben in ihren Rücken.
»Sieh dir seine Hose an.« Die Stimme klang angewidert. Ein leises Kichern – der Laut ging Chiara durch Mark und Bein.
Langsam rutschte sie mit dem Rücken an der Wand herab, bis ihr Hinterteil das Deck berührte. Dann robbte sie unterhalb des offenen Fensters nach links, wo noch alle Vorhänge zugezogen waren. Etwas in ihr hinderte sie daran, sich wieder aufzurichten – sie fürchtete, weitere Vorhänge könnten geöffnet werden, gerade wenn sie an ihnen vorbeilief –, aber der Drang, wieder beweglich zu sein, überwog ihre Sorge.
Diese Stimme.
Und das helle Kichern.
Sie m üsste die Polizei rufen. Vielleicht hätte sie das von Anfang an tun sollen. A ber gerade, als sie den Gedanken ernsthaft in Bet r acht zog, ertönte vom Hauptdeck, eine Etage u n ter ihr, ein metalli s cher Laut. Dort unten war je m and!
Vorsichtig schaute sie über d a s Geländer, sah a b er nic h ts als Dunkelheit. Dennoch war sie sicher, dass sie nicht allein war. Rasch zog s i e sich wie d er nach h i nten zurüc k . Hatte der andere sie bemerkt? W ar Sager ihr doch gefolgt?
Das Geräu s ch auf dem Hauptdeck wieder h olte sich nicht, aber außer ihr hatte es noch je m and gehört.
Die Tür des Salons wurde aufgerissen.
Dies m al blieb der
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