Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
alle hier, in deckenhohen Regalen, m anche in zwei Reihen hintereinander, andere quer in die Zwischenräu m e geschoben. Ein paar hundert wei t ere lagerten in Kisten a m Boden.
    »Jula ? «
    Der Raum war verlassen, aber die Tür stand offen; dahinter gingen von einem sch m alen Gang weitere Türen ab. Eine Treppe führte hinab in den R u m pf des S c hiffes.
    Von dort unten hörte sie das Kichern des Kindes.
    »Jula, was soll das?«
    Ein langgezogenes Knarren drang an ihre Ohren, aber das m ochte eines der vielen undefinierbaren Geräusche an Bord eines S chiffes sein.
    Trotzdem wirbelte sie heru m .
    Auf Höhe der Treppe stand ein kleiner Junge mit glattem schwarzem Haar, von Kopf bis Fuß in weißes Leinen gekleidet. Er war viel jünger, als sie erwartet hatte. Henriette hatte behauptet, der Junge, mit dem Jula nach ihrer Rückkehr aus Asien gesehen worden war, sei elf oder zwölf gewesen, und das war jetzt wie lange her? Drei, vier Jahre? Falls es noch immer dasselbe Kind war wie damals, dann war es seitdem nicht gealtert.
    Sie richtete den Revolver auf den Jungen. Der sah sie nur ausdruckslos an.
    »Wo ist Jula?«, fragte sie. »Ich weiß, dass sie hier ist.« Der Körper, den sie im Leichenschauhaus gesehen hatte, war Julas Original gewesen. Nette war Zeugin ihrer Wiedergeburt geworden. Die neue Jula hielt sich an Bord dieser Yacht auf.
    Der Junge lief durch eine offene Tür. Chiara schloss die Hand noch fester um den Revolver und folgte ihm in einigem Abstand.
    Das Licht im Gang begann zu flim m ern. In d e m Raum, in den der Junge gelaufen war, herrschte völlige Dunkelheit.
    »Jula ? «
    W i eder antwortete ihr nur das Kichern. Nach d em sie den Jungen draußen m it ernster, verschlossener Miene gesehen hatte, klang es noch unwirklicher.
    Sie blieb vor der Tür des dunklen Zimmers stehen.
    »Ich komme nicht r e in«, sagte sie. » Ich will eu c h sehen, alle b eide.«
    Das Licht im Flur ging aus.
    Sie m achte unwillkürlich einen Schritt nach vorn und wünschte sich das Rampenlicht herbei, die L i chtflut der Scheinwerfer, die Reaktion eines Publiku m s oder Regisseurs. Aber natürlich w a r da nur Finsternis und eine Stille, die ihr m ehr Angst m ac h te als das irre L achen des  Kindes.
    »Jula ? «
    Die Finst er nis gri f f m it unsichtbaren Händen nach ihr, strich m it Eisfingern über sie hinweg.
    » W ie konnte er das nur tun.«
    Sie er s t arrte. »Jula? Bist du das ? « Stille.
    »Gott, Jula …«
    »Überrascht? Ich denke, nicht.«
    Chiara zögerte, versuchte sich zu fassen. Dann sagte sie:
    »Mach das Licht wieder an.«
    »Ich habe es nicht ausge m acht.«
    Chiara wollte etwas sagen, als sie spürte, wie je m and an ihr vorbeihuschte, ein kaum m erklicher Luftzug an ihrer Wange. D a nn wurde ihr der Revolver aus der Hand gerissen, m it einem Ruck, der sie einen halben Schritt vorwärts tau m eln ließ.
    W i eder das Kichern.
    Chiara fasste sich. »Sag ih m , er kann die W affe haben. Ich will weder ihm noch dir was tun.«
    »Natürlich nicht. Das hätte auch wenig Sinn.«
    » W ie –«
    »Ich sterbe, Chiara. D i es m al wirklich.« Jula lachte trocken, es klang wie das Raspeln von Sägespänen.
    » W o bist du ? «, fragte Chiara in die Finsternis. »Ich will dich berü h ren.« W ollte s i e das wirklich? Es schien ric h tig, das zu sagen, aber in Wahrheit w ar sie n i c h t sicher. Julas Stim m e schwebte körperlos wie ein Gespenst in der Dunkelheit. Chiara fürchtete, das, was sie zu fassen bekä m e, könnte eiskalt und leblos sein.
    Es beunruhigte sie, dass der Junge im m e r noch  unsichtbar um sie herum strich. Dass er jetzt den Revolver hatte, m achte ihr kaum Sorgen. Im Dunkeln hätte er ihr ebenso gut ein Messer zwischen die Rippen stoßen können, ohne dass sie sich w ehren konnte; eine Schusswaffe m achte ihn nicht gefährlicher.
    »Es ist besser, wenn du m i r nicht zu nahe kom m st«, sagte Jula. »Die Pest überträ g t sich n u r dur c h Hautkontakt.«
    »Pest ? « Chiara war plötzlich schwindelig.
    »Die Mannschaft weiß es nicht«, sagte Jula. »Und Jakob denkt, es sei eine bösartige Infektion, die irgendwann wieder abklingt und vielleicht ein paar Narben hinterlässt. Aber es ist die Pest, Chiara. Der Schwarze Tod.«
    »Aber die P est ist …«
    »Ausgerottet? Nicht dort, wo ich herkom m e. I n Indien flammt sie alle paar Jahre auf, rottet ein paar Dörfer aus und verschwindet wieder. Die Einhei m ischen haben ein Wort dafür, das wir m it Kastenteufel übersetzen

Weitere Kostenlose Bücher