Das zweite Gesicht
hatte?
»Ich habe ihre Augen gefil m t«, s a gte er, die Stim m e gesenkt. » S ehr groß, leinwandfüllend. Keiner vor m i r hat das getan. Und was ich darin gesehen habe … ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll. Es war n i chts, das irgendwer hätte sehen wollen. Als blickten einem all die eigenen L aster entgegen, auch die, von denen m an selbst nichts wis se n will, Din g e, die m an vielleic h t u n terdr ü ckt oder t o tsc h weigt. I ch h abe e in e Gän sehaut b e k o mm e n , a l s ich diese Augen auf der Leinwand gesehen habe. Solch einen Spiegel, nun, nie m and mö c hte den vorgehalten bekommen – ganz bestimmt nicht das große Publikum.«
Einen Moment lang konnte sie nichts sagen. Julas Augen
… Sie versuchte, sich zu erinnern. Aber immer, wenn sie sich das Bild ihrer Sc hw ester ins Gedächtnis rie f , sah sie nur ihr eigenes.
Du m p f, w i e eine Schlafwandlerin, stand sie auf, bedankte sich für seine Aufrichtigkeit und sagte, sie wolle ihn nic h t w e it e r au f halt e n. Er m öge verzeihen, dass sie ihn derart ausgehorcht habe, a b er es gebe Dinge, die ihr wichtiger seien als die S chauspielerei.
»Sie sind zu ehrlich, Chiara«, sagte er zum Abschied.
»Die Menschen wollen belogen werden, denken Sie daran. W i r alle wollen belogen werden.«
Sie fuhr m it d e m Taxi ins Adlon und roch den ganzen Weg über Langs Rasierwasser an ihrem Mantel. Sein Rasierwasser und die Räucherstäbchen, die auf den exoti s chen Altären s ei n er Sam m elstücke gebrannt hatten.
Am nächsten Morgen kam ein Brief. Die Probe- aufnah m en waren abgesagt.
Hatte er Julas Augen auch an ihr gesehen?
Zehn
Sie war erst gegen sieben aus dem Atelier gekommen, fix und fertig, m it Schatten dunkler Sch m inke unter den Augen. Die Dreharbeiten war e n im zweiten Monat, seit m ehreren Wochen nahm sie Stunden bei Jakob. Heute war S a m stag, aber der Film musste fertig werden, deshalb waren die freien W ochenenden auf einen Tag verkürzt worden. Sie hatte Magensch m erzen, und ihr war schlecht, vielleicht eine Folge des bescheidenen Mittagessens. Ihr Beine fühlten sich an, als gehorchten sie einer anderen, aber besti mm t nicht ihr.
Jakob sollte ihr eine Menge beibringen, körperliche Dinge wie Reiten, Tanzen, Rennen, a ber sein Schwerpunkt lag auf Mi m i k und Emotionen. W i e erzeugt m an wann welches Gefühl, um es gl a ubhaft auf die Leinwand zu bringen?
»Du m usst m i r etwas verraten«, sagte er, während er in der leeren Halle, in der er seinen Unterricht erteilte, vor ihr stand. Irgendwo oben unter der Decke flatterten Tauben; das taten sie jeden Abend, wenn Chiara herka m , auch wenn sie noch keine einzige zu Gesicht bekommen hatte.
Sie zuckte d i e Achseln. » W as willst du wisse n ? «
» W ann warst du das l e tzte M al r i c htig au f ger e gt? I c h m eine, nicht nervös wie b e i Lang, sondern wirklich aus dem Häuschen.«
Sie überlegte einen Mo m ent, wog unterschiedliche Gelegenheiten gegeneinander ab. Die W ahl fiel nicht schwer.
»Nach der Abschlussfeier von Der Untergang des Hauses Usher … eigentlich erst danach.«
Er legte den Kopf leicht sch r äg, fra g te aber nicht weit e r. Sie kan n te diesen Gesic h tsausdruck seit d en er s t en Stunden: Er erwartete, dass sie von sich aus fort f uhr.
Sie zögerte kurz, sa g t e sich, dass er glauben müsse, sie habe den Verstand verloren – und dann erzählte sie ihm von der Seance. Jedes Detail, an das sie sich erinnern konnte.
War das ein Fehler? Vielleicht.
Irgendwann musst du m it je m andem darüber reden. Und ihm vertraust du.
Als sie geendet hatte, ging er e i n p a ar Sch r itte v or i h r a u f und ab. Er lachte nicht, immerhin etwas, aber er sagte auch eine ganze Weile lang kein W ort, und das beunruhigte sie ein wenig.
»Du wollte s t es ja unbe d i ngt hören«, sagte s i e un s icher.
»Diese Idioten.«
»Her m ann und Masken?«
Er nickte. »Und die anderen, die dabei waren.« D a m i t schloss e r s i e ver m utli c h ein, ab e r das m achte ihr nichts aus. Er h atte ja Recht. »Ich hätte ihnen ein wenig m ehr Grips zugetraut.«
Sie winkte ab. »Das war doch Kinderkra m . An d e m Abend hat es m i ch schrecklich aufgeregt, a b er jetzt … na ja, ich schätze, ich kann das alles ganz gut einordnen.« Sie hatte ihm nichts von dem anschließenden Gespräch m i t Lea erzä h lt.
»Her m ann wollte v e rmutlich auf etwas ganz anderes hinaus.«
Es wunderte sie, wie verschlossen
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