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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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wohl zu m ute. Das Licht in der Halle sc h i en sich zu s am m enzuziehen, sich über ihnen zu bündeln, während die W ände in Schatten versanken.
    Mach dich n i cht lächerlich.
    Sie hörte weiter zu, ein wenig argwöhnisch, aber auch neugierig. »Ich wollte d i r von dieser Frau erzählen«, sagte er. »Sie hat an einer Seance teilgenom m en, und diese Leute haben ihr geholfen, Kontakt aufzuneh m en.«
    »Das ist d e in Ern s t, ni cht wahr? Du glaubst wirklich daran.«
    Er nickte langsa m . »In diesem Fall, ja. Und in ein paar anderen.«
    »Aber das ist …«
    »Die W ahrheit. Auch das, was danach passiert ist.«
    Sie sah ihn stumm an, versuchte ihn zu durchschauen und scheiterte doch schon an der Beiläufigkeit seines Tonfalls.
    » W as ist pa s sie rt ?«
    »Sie wurde verrüc k t, sagten die Ärzte. Aber in W i rklichkeit … sie war besessen nach diesem Abend. Sie war … nicht mehr allein. Versteh s t d u?«
    »Kein W ort.«
    » W ochenlang, m onatelang danach war sie nicht m ehr ansprechbar. Sie saß nur noch da und schrieb. Schrieb jedes Stück Papier voll, das sie finden konnte. Dann den Tisch. Den Boden. Die W ände. Sich sel b st. S i e sc h rieb und schrieb und schrieb.« Jakob nahm Chiaras Hand, sah ihr aber ni c ht in die Augen, als wollte er sie vor etwas in seinem Blick bewahren, vor der Gewissheit, dass er glaubte, was er sagte.
    »Es waren die W orte der Toten, Chiara. Sie schrieb auf, was sie ihr sagten. Sie konnte die Verbindung nicht m ehr lösen, keiner konnte das. S i e hat N achrichten au f geschrie b en, Fragen, Bitten, Lie b esschwüre, all e s, was die Toten ihren Angehörigen m itt e ilen wollte n . Manche flehten um Verzeihung für i r gendwelche Fehler, andere verfluchten ihre Erben, und wieder andere erzählten einfach nur, was ihnen g e rade in den Sinn ka m .«
    »Sie kann das alles erfunden haben.«
    »Nein. Nicht, nachdem es gelungen war, ein paar von denen, an die die Botschaften gerichtet waren, ausfindig zu m achen. Manche haben a l les abgestritten, aber nur diejenigen, denen die W ah r heit geschadet hätte – Erbschleicher und Betrüger oder solche, die ihre eigene  Geschichte nicht wahrhaben wollten. Aber es gab auch welche, die sagten, ja, es stim m t , es ist wahr.«
    Chiara at m ete tief durch, keineswe g s sic h er, was sie von all dem halten sollte. »W as ist aus der Frau geworden?«
    »Nach drei oder vier Monaten ist sie gestorben. Sie hatte keine Kraft m ehr. Sie aß nic h t, trank nicht, nur wenn m an sie dazu gezwungen hat. Sie schrieb. Tag und Nacht, m it alle m , was ihr in die F i nger ka m . Und als m a n ihr alles wegnah m , schrieb sie nur m it ihren Fingern … m it d e m Blut i h rer Finger! Zulet z t hat m an sie in ei n e Zwangsjac k e gestec k t. Drei Tage und Näc h te hat sie geschrien wie a m Spieß, trotz aller Beruhigung s m ittel. Dann ist sie gestorben, erstickt an ihrem Blut und ihrer Zunge, m it der sie versucht hat, die Buchs t aben an ihren Gau m en zu schreiben. Sie hat sich das Fleisch abgeschabt, bis auf den Knochen, und sie …«
    Sie brachte ihn m it einer Handbewegung zum Verstum m e n. »Es reicht. Ich habs begriffen. Keine Beschwörungen m ehr.«
    »Du hast m i ch nicht verstanden.«
    »O doch, ich glaube, das habe ich.«
    »Eingangs hab ich dich gefragt, ob du immer noch m i t deiner Sch w ester spr e c h en will s t.«
    »Nach alle m , was du m i r gerade erzählt hast ? «
    »Du kannst es versuchen – aber richtig. So, dass es ungefährlich ist.«
    Sie hob eine Augenbraue. »Ach ja ? «
    »Keine Selbstversuche, sondern … nun, professionelle  Unterst ü tz u ng, wenn du so will s t.«
    »Und du kannst das v er m ittel n ?«
    »Das klin g t , als wollte ich ein Geschäft m it dir m achen. Aber das ist es nicht. Ich will dir hel f en, den Kopf
    freizukriegen.
    Und wenn du dazu erst über diese Sache m it Jula hinwegkom m en musst, dann helfe ich dir auch dabei.«
    »Ganz selb s tlo s ? «
    Er zuckte die Achseln. »Lad m i ch dafür bei Gelegenheit m al zum Es s en ein.«
    Sie überlegte und kam zu d e m Schluss, dass sie ver m utlich erneut a u f dem besten W ege war, sich lächerlich zu m achen. Aber in ei n em zu m i ndest hatte er Recht: Sie m usste ihren Kopf freibekom m en, von Stim m en aus dem Jenseits und unsichtbaren Klavierspielerinnen.
    »Also«, sagte sie nach einem Mo m e nt, »was schlägst du vor ? «
    * Das Scheunenviertel.
    Sie hätte es ahnen m üs s en.
    Als liefen hier die Fäden eines Schicksals zusammen,

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