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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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nderswo, a ber der N a chti s ch ist delikat.«
    Chiara zuckte die Achseln und konzentrierte sich wieder auf ihr G e genüber. » W issen Sie, ich bin nicht sich e r wegen der Villa. Do r t einzu z iehen kommt m i r irgendwie  … falsch vor.«
    Er kaute ein letztes Stück Blu m e nkohl, nahm einen Schluck Wasser und tupfte sich die Lippen m it der Serviette ab. »Sie haben keine Angst vor dem Haus«, stellte er fest, »Sie f ü rchten sich vor Jula.«
    »Ich glaube nicht an Geister.«
    »Ist das so? Nun, wie a uch im m er … Ich m einte kein echtes Gespenst. W as ich sagen will, ist, dass ich glaube, Sie haben im m er no c h Angst, m it ihr verglichen zu werden.« Er sah ihren Gesichtsausdruck und lächelte sanft. »Das ist Ihr wunder Punkt, nicht wahr ? «
    »Alle vergleichen m i ch m it ihr.«
    »Das bilden Sie sich ein . «
    »Ganz sicher nicht.« Sie war drauf und dran, ihm von ihrer Begegnung m it Elohim von Fürstenberg zu erzählen. Dann aber sagte sie nur: »Sie ist überall, wo ich hingehe.
    Ver m utlich sitzt sie gerade unterm Tisch.«
    Es war ein schwacher V ersuch, dem The m a den Stachel zu ziehen, und Masken lachte höflich. Dann wandte er sich dem zu, was er den Nachtisch genannt hatte. »Hier«, sagte er, »neh m en Sie auch was.«
    Sie sah auf den Kokainteller, den er ihr m it beiden Händen entgegenhielt, und fragte sich, was er wohl täte, wenn sie jetzt m itten in das Zeug hineinpu s ten würde, geradewegs über den T eller hinweg in sein G esicht. Ein hysterisches Lachen stieg in ihr auf, und sie unterdrückte es nur m it Mühe. Zugleich ste l lte s i e sich die Frage, ob da noch etwas anderes im Essen gewesen war als Salz und Pfeffer. Sie fühlte sich m it einem Mal so gelassen und zugleich so unglaublich ko m i sch; nor m alerweise hielt sie sich nicht für besonders witzig, aber jetzt schien es ihr, als wäre jedes ihrer W orte, ach was, jeder Gedanke ein perfekter K a lauer.
    »Bedienen S i e sich«, sagte er noch ein m al.
    Sie zuckte die Achseln, nahm den Teller und stellte ihn vor sich ab. Durch ein silbernes Röhrchen, das zum Gedeck gehörte, zog sie Koks durchs Nasenloch bis sie das Gefühl hatte, zum Räu m en ihre Nebenhöhlen wäre eine Schneeschaufel nötig.
    Es war nicht das erste Mal, aber zuvor waren die Mengen w i nzig gewesen, nicht m ehr als kleine Appetithäp p chen, die Ursi ihr au f gedrängt hatte. Dagegen war dies hier das volle Programm. Nord, Süd, Ost und West. Die vier Jahresze i ten im Sonderzugtempo. Die Besteigung des Mount Everest und der Sprung in die Hölle.
    Sie sah Masken an, der ihr d e n Teller fortnahm und sich dabei seltsam bewegte, ruc k artig wie ein Insekt. Die Menschen um sie herum sanken nach hinten weg und  rückten zugleich auf sie zu. E i n p aar schauten si ch zu ihr um – das t aten sie doch, oder? –, und sie sahen die wunderbare, die gro ß artige, die bezauber n de Chiara Mondschein auf dem ersten Höhepunkt ihrer Karriere, blendend schön, unge m ein talentiert und von solcher Gleichgültigkeit allen anderen gegenüber erfüllt, dass sie sich all e in b eim Anblick die s er Me n schen hätte übergeben mögen. Od e r lachen. Am besten gleichzeitig.
    Ihre Nase juckte ein wenig, und sie spürte ein Ziehen unter der Kopfhaut. Ansonst e n aber fühlte sie sich prächtig, und sie dachte: W ar u m eigentlich nicht? W ar u m sollte ich n i cht in die Villa ziehe n ?
    Dann fiel ihr der Knochen ein, den das Mädchen hervorgewürgt hatte, die Zähne und die Splitter, und ihr kam der G e danke, dass es eine gute Idee wäre, die Toten ruhen und ihre Häuser verfallen zu lassen.
    Die junge Frau war jetzt nic h t m ehr allein auf der Bühne. Je m and war bei ihr, und im ersten Augenblick glaubte Chiara, es wäre Masken, denn er saß nicht m ehr auf seinem Platz. Dann aber erkannte sie, dass es kein Mensch war, sondern eine m annsgroße P uppe m it biegsa m en Gliedern, eine Stoffpuppe, w i e eine zum Leben erwachte Vogelsche u che. Im Publikum wurde Gelächter laut, er s t unterdrückt, dann i m m e r heftiger, während das Mädchen m it der Puppe exotische Tanzschritte vollführte und sich dabei ebenso verrenkte wie das Di n g aus S t off, als hätte auch sie keine Knochen, als h ätte man alles Solide aus ihr herausgesaugt und den Leib eines m enschlichen Oktopus zurückgelassen, elastisch und lockend und trügerisch in seiner tödlichen Eleganz.
    Aber war es wirklich das Mädchen, das die Puppe führte?
    Oder führte die Puppe das

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