Das zweite Gesicht
atmete tief durch, so als wäre er gezwungen, ihr eine sc h l ec h te Nachricht zu überbri n gen. » W arum ziehen Sie nic h t e i nf ach in das Haus?« S i e wollte wi d e r sprechen, aber er besänftigte sie m it einer H andbewegung. »So ein Gebäude wird nicht schöner d a durch, dass es monatelang leer ste h t. J ula i s t jet z t … wie lange? … an die fünf
Monate tot, und wenn wir nic h t bald je m anden f i nden, der die Villa übernim m t, w i rd sie um einiges im W e rt fallen.«
»Das interessiert m i ch nicht.«
»Das weiß ich. Aber m i ch ärgert die Verschwendung. Ziehen Sie ein. Verän d ern Sie, was Sie wollen. Es spricht doch wirklich nichts dagegen.« Dann sagte er etwas, das sie inne r l i c h ge f rieren ließ. »Es ist im m erhin Julas Ver m ächtnis, nicht wahr ? «
Sie sah ihn durchdringend an, suchte nach Hinweisen, dass er m ehr über den letzten Abend m it Jakob wusste, als er v o rgab. Aber sie fa n d nic h ts in s einem Blic k , das ihren Argwohn bestätigt hätte, kein süffisantes Lächeln, nicht das winzigste Aufblitzen von Ironie.
Julas Ver m ächtnis.
Sie fühlte s i ch wieder unter W asser gezogen, sah das Gesicht von unten au f steigen, wo k ein Unten h ätte s e in dürfen, aber dies m al w a r es nicht Julas Gesicht, sondern das des kleinen Mädchens, und in den Hand hielt es einen m enschlichen Knochen.
»Chiara ? «
Sie schrak auf.
»Das Essen.«
»Ja … natürlich.« S i e nahm die Hände vom Tisch, da m i t der Kell n er die Teller abste l len konnte. Ihre Portion war klein und gesch m ackvoll angerichtet. W er hier speiste, zahlte ein V er m ögen für wenig. Sie war zum ersten Mal in dem Lokal. Der Eingang lag an einem üppig bepflanzten Hinterhof in Schöneberg, und zur Straße hin verriet kein Schild seine Existenz. T rotzdem waren alle Tische bereits Tage vorher reserviert, wie Masken ihr versichert hatte.
Am Eingang m usste m an ein e m Kleiderschrank von einem Kerl ein Pa s swort nenn e n. Mitt e ls eines Klingel s ignals gab er oben Bescheid, dass je m and die Treppe heraufk a m und eingelassen werden durfte.
An der Stirnwand des Rau m es befand sich eine kleine Bühne, kaum mehr als ein P odest, auf dem a n m anchen Tagen eine Tanzband oder ein Klassiken s e m ble spielte. Heute Abend tanzte dort oben eine junge Frau im Kostüm einer Haremsda m e, wog und bog sich zu einer Musik, die nur sie selbst hörte, m it verträu m ter Miene und rätselhaften Gesten, die auss a hen, als zeichne sie m it den Händen okkulte Sy m bole in die Luft.
Ein zweiter Kellner brachte Maskens Bestellung, und Chiara sah, was er m it das Übliche ge m eint hatte. Auf dem einen Teller lag eine Portion gedünsteter G e m üsesorten, kein F l eisch, angerichtet m it verschiedenen Saucen. Auf dem zweiten Teller, glatt und randlos wie ein Spiegel, befanden sich m ehrere Linien Kokain, m ehr als genug für sie beide.
»Guten Appetit«, sagte Masken und begann zu essen, ohne den zweiten Teller e i nes Blickes zu würdigen.
Chiara war nicht m ehr be s onders hungrig, was weniger m it d e m Koks, als viel m ehr m it der Selb s t ver s tändlich k eit zu tun hatte, m it der es offen auf d e m Tisch platziert wurde. Drogen erschreckten sie längst nicht m ehr, die Ateliers waren voll davon, ganz zu schweigen von den Lokalen und Nachtclubs; sie aber vom Kellner am Tisch serviert zu bekommen, das war ihr neu.
Mit frisch erwachtem Interesse schaute sie sich um und sah, dass auf den m e i sten Tischen kleine T eller und Tabletts standen, die nicht zum M e nü gehörten. Kokain, Heroin, Morphiu m a m pu l len. Frauen zogen gelassen ganze Linien in die Nase, während s i e s i c h m it ihren Begleitern gepflegt unterhielten; Männer rieben sich das Zeug ins Zahnfleisch oder schnupften es gleich vom Teller,
während ihre Partnerinnen zusahen, am W ein nippten und warteten, dass sie an die Reihe ka m en. Zwei Tische weiter hatte je m and seinen Är m el zurückgeschoben und eine Morphiu m spritze am Oberarm angesetzt; einen Augenblick später sank er zurück, während ein Kellner herbeieilte, die Kanüle aus dem A r m zog, in ein weißes Tuch einschlug und davontrug. Chiara verstand jetzt, warum so viele der Tische in behaglichen Nischen standen und weshalb die Stühle m ehr Ähnlichkeit m it Sesseln hatten, in die m an zurückfall e n konnte, um seinen Rausch zu genießen.
Masken b e m erkte ihre Blicke und läch e lte. »Das Ess e n ist nicht b esser a l s a
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