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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Mädchen?
    Chiara zwang sich, den B lick abzuwenden. Sie fühl t e sich selbst so biegsam wie die Tänzerin, hatte das Gefühl, dieselben B ewegungen und Posen einneh m en zu können. Nicht Ballett, nicht Panto m i m e, s ondern der Locktanz einer Gift sc hlage.
    Sie m ochte eine halbe Stunde dagesessen und d e m bizarren Treiben auf der Bühne zugeschaut haben. Ihr Zeitgefühl hatte sie als Ers t es verloren, und nun schwand auch ihr Gleichgewich t ssinn. Sie spürte, dass sie schwankte, aber ihr wurde, Gott sei Dank, nicht schwarz vor Augen.
    Der Anblick der Puppe jagte ihre einen Schauder über den Rücken. Sie fröstelte, ob w ohl ihr eigentlich warm war. Alles war so angeneh m , so n e tt gewesen, bis zu dem Auftauchen dieser Puppe, diesem Zerrbild eines Tänzers – es wirbelte das Mädchen über die Bühne und lachte und schrie Obszönitäten ins Publiku m .
    Oder war si e das selb st ? Nein, sie hatte nichts gesagt. Aber sie h örte jet z t i h re Gedanken, als flüstere sie ihr je m and ins Ohr. Konnte sie sicher sein, dass es ihre eigenen waren?
    Wo, zum Teufel, stec k te Maske n ?
    Ihr Blick fiel auf eine zweiflügelige Tür nahe der Bühne. Sie hatte angenommen, es sei der Durchgang zu den U m kleideräu m en der Künstler, a ber jet z t s a h sie einen Mann zwischen den Flügeln verschwinden.
    W i e lange war Masken f ort?
    Sie hatte keine Uhr und wollte nie m anden nach der Zeit fragen. Hätte sie eine Uhr gehabt, wären die Zeiger ver m utlich vom Zi ff erblatt ge r ad e wegs in i h re Augen geschnellt, wie winzige goldene Pfeile. Haargenau ins Schwarze.
    Ihr Ver s ta n d flüsterte ihr U n fug zu, aber noch war sie
    klar genug, um die Tür zu erkenn e n. Chiara stand auf, kein Proble m , und ging durch den Saal Richtung Bühne, ganz gerade, völlig beherrscht. Sie fühlte sich größer und schöner, besser als alle hier im Raum.
    Die Puppe zog die Tänzerin an sich und küsste sie.
    Was würd e n die beiden tun, wenn ihr Auftritt beendet war? Stieg die Puppe in eine Kiste und lag dort m it schim m ernden Knopfaugen im Dunkeln, bis zum nächsten Tanz?
    Chiara bog vor der Bühne nach rechts und ging auf die Tür zu. Einer der Kellner lief ihr über den W eg, und als sie ihn nach M asken fragte, nickte er u nd sagte, er sei wo h l nach hinten gegangen, in die privaten Räu m e.
    Sie ging zur Tür und trat h i ndurch. Die Flügel, obwohl aus m assiver Eiche, schwangen vor und zurück, es gab keine Klinke. Ein Geruch drang ihr entgegen, der sie an die Räucherkerzen in Langs Wohnung erinnerte, nur schwerer, süßlicher.
    Ein langer Gang lag vor ihr, dessen W ä nde m it dunkelrotem Stoff bespannt w a ren. L a m pen brannten in goldenen H alterungen zwischen den hohen Türen. Ein dicker, flauschiger Teppich dä m p fte ihre Schritte. Die m eisten Türen waren geschloss e n, aber hier und da stand eine offen, und dahinter sah sie Männer und Frauen in verschiedenen Stadien des Beischlafs, einige noch beim gegenseitigen Entkleide n , andere eng u m schlungen.
    Eine junge Frau kniete vor einem nackten Mann m it m ilitäri s ch e m Haarschnitt. Chi a ra sah sie nur im Pro f il, m it geschlossenen Augen und sehr roten Lippen, die seine Erektion umschlossen. E i ne andere Frau hockte auf allen Vieren v o r einem rothaarigen Dicken, der sein Gesicht zwischen ihren Hinterbacken vergrub. Ein Mädchen tanzte für drei junge Kerle, die es m it großen Augen anstarrten;
    erst nach einem Mo m e nt fiel Chiara auf, dass sie den Schwanz der Schlange, die sich um ihren üppigen Körper wand, tief in ihren Unterleib e i ngeführt hatte. Dabei lachte sie und lachte und lachte.
    Sie ging wie im Schlaf an all den Türen und Szenen vorüber, staunte hier, w underte sich dort, aber sie fühlte keinen Abscheu, nicht ein m al Unbehagen.
    Masken sah sie nirgends, und obgleich er hinter einer der geschlossenen Türen sein m ochte, ver m utete sie ihn doch anderswo, denn am Ende des Flurs war ein weiterer Durchgang m it Schwingtüren. Diese Tür übte eine seltsa m e Anziehungskraft auf sie aus, und sie nahm an, dass es Masken nicht anders ergangen war.
    »Das Übliche«, hörte sie ihn sagen und fragte sich, ob sich dahinter m ehr verbarg als Essen und Koks.
    Bevor sie d i e Tür erreichte, kam eine Frau a u f sie zu, nicht älter als s i e sel b st, in einem hautengen Kleid aus goldenen Schuppen. »Sie sind neu hier, nicht wahr ? «
    Chiara hatte das Gefühl, ihre Kiefer klebten aufeinander, obwohl die belebende W i rkung d e s

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