Das zweite Gesicht
Rauschgift ihr eben noch an Kraft und Elan geschenkt hatte, entzog ihr jetzt der Anblick dieser Menschen.
Nicht nur die Frauen waren berüh m t, auch die Männer. Doch während die Männer f l ü ste r t en, la c hten u n d stöhnten, blieben die F rauen stumm und devot. Als hätten sie beim Eintritt in di e se Räu m e ihren W illen an der P f orte abgegeben.
Als hätte m a n sie unter Drogen gesetzt.
In Chiaras Ohren setzte ein Pochen ein, das alle anderen Laute überlagerte, wie ein Alar m signal.
Sie wollte sich von der Wand abstoßen und zurück zum Ausgang eilen, doch die Beine gehorchten ihr nicht. Nicht nur die Umgebung, auch ihr eigenes Verhalten folgte den Gesetz m äßigkeiten ei ne s Trau m s. Die er s t e T ür war d i e Schwelle zu einer anderen W elt gewesen, die zweite das Tor zurück in ihre eig e ne – nur dass dort nichts m ehr so war, wie sie es kannte. Alles war auf den Kopf g e stellt, die alten Regeln hatten keinen Bestand mehr.
Ein Schritt vorwärts. D ann noch einer. Ja, jetzt ging es wieder.
Sie m usste weg von hier. Musste raus.
Es waren nicht nur die Gesic h ter, die sie schockierten. Es war die Gleichgültigkeit in den Augen, der trübe Nebel ihrer B licke.
Alle diese Frauen waren a u s Fleisch und Blut. Si e waren keine Täuschung, kein Gaukelwerk. Keine geschickt gesch m inkten I m itatoren, wie es sie in m anchen Luxusbordellen in Berlin und anderswo gab. Ke i ne Huren, die m it Perücken und ein wenig Farbe ei n e Illu s i on erzeugten, an die m ancher Freier nur zu gern glauben wollte.
Sie waren alle hier. Und sie waren echt.
Mit tapsi g en Schritten w i ch sie vor dem Pagen zurück in die andere Richtung. Bei j e der Bewegung rechnete sie da m it, dass irgendwer sich a u f sie stürzen, ihr die Kleider vom Leib reißen und sie auf eines der Betten zerren würde – so, wie es zweifellos den a nderen widerfahren war, denn keine, keine von ihnen k onnte freiwillig h i er sei n .
Aber nie m a nd packte sie, und nie m and zwang sie zu etwas.
Ihre Sicht wurde immer verschw o mmen e r, ihre Bewegungen unsicherer. Sie war drauf und dran, das Bewusstsein zu verlieren, und das war keine Folge des Kokains. Da waren noch andere Drogen im Essen gewesen, davon war sie jetzt überzeugt – und zugleich spielte es ke ine Rolle m ehr.
Stöhnen hinter einer halboffenen Tür. Eine Sti mm e, die ihr bekannt vorka m .
Chiara trat ein.
Masken lag rücklings a u f einem orientalischen T eppich, die Hose bis zu den Knien heruntergelassen, das He m d nach oben geschoben, ausgebreitet wie ein Paar Flügel zu beiden Seiten seines Körpers. Auf ihm b e wegte sich aufrecht s i tzend ei n e Frau, die Chiara den Rücken zuwandte. Sie hatte dunkel b raunes Haar, das weit über ihren Rücken fiel und sich um die Schulterbl ä tter teilte wie ein F l u ss um zwei Inseln. Sie war sc h l a n k, fast ein wenig m ag e r. Chiara konnte ihre Rippen sehen und die Beine, die eine Spur zu dünn waren.
Masken hatte sie nicht b e m erkt, er war ebenso berausc h t wie sie sel b st. Er hielt die Augen geschlossen, während sich seine Lippen be w egten, v i elleicht etwas flüsterten.
Chiara hörte es nicht, hörte nur das Pochen in ihren Ohren, du m pf wie Trommelschläge.
Die Frau bewegte sich weiter, schob die Hüften vor und zurück, und wandte langsam den Kopf in ihre Richtung.
Trommeln! Das Pochen m achte sie wahnsinnig!
Wandte den Kopf noch weiter, schob sich mit einer Hand Haarsträhnen von den W angen, aus den Augen, blic k t e j e t z t nach hinten.
Und lächelte.
Chiara s tieß einen spit z en Laut aus. Das Trom m eln war jetzt spürbar, Hiebe auf ihren Geist, in ihrem Verstand, echte, fühlbare Sch m erzen.
Ein leeres, s eele n loses L ächeln.
Ihr eigenes Lächeln. Als hätte m an es reproduziert und ihm dabei jede E m otion entzogen.
Das bin nicht ich! Und doch …
Ihre Doppelgängerin hörte nicht auf, sich zu bewegen. Ritt Masken unter s i ch z u m Höhepunkt und starrte dabei Chiara an, starrte über ihre Schulter, und das Lächeln tat so weh, so schrecklich weh, denn es war ein Lächeln ohne W illen, ohne Versta n d, das aufge m alte Grinsen ei n er Puppe.
Chiara floh aus dem Zimm e r, hinaus auf den Flur. Stumme Dienerin n en mit welt b erüh m t en Gesichtern, und darauf dieses tote Läche l n, seele n los wie Denk m äler.
Chiara tau m elte, konnte sich kaum auf den Beinen halten.
Das rote Licht, das r o te Zim m er. Die Schatten an den Wänden, M askens und ihr eigener.
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