Das zweite Königreich
Frauen der Housecarls. Er hatte keine Neuigkeiten für sie, weder gute noch schlechte. Bei seiner grausigen Suche auf dem Schlachtfeld hatte er unter den Gefallenen kein einziges bekanntes Gesicht gefunden. Allerdings waren auch längst nicht alle Gesichtererkennbar gewesen. Und nicht alle Gefallenen hatten überhaupt noch Köpfe …
Sie konnten nur abwarten, wer heimkehrte und wer nicht.
Eadwig fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen und hob dann den Kopf. »Ist der König auch tot?«
Cædmon nickte. »Und seine beiden Brüder.«
Eadwig blinzelte verständnislos. Er war zu verstört, um diesen neuerlichen Schock wirklich zu spüren.
»Also gibt es nun gar keine Godwinsons mehr?« fragte er ungläubig. »Doch. Wulfnoth. Er lebt in Rouen an Herzog Williams Hof. Und Harold Godwinson hat ein paar Söhne, soweit ich weiß.«
»Alles Bastarde«, sagte Eadwig teilnahmslos. Er war mit seinen Gedanken anderswo.
Mag sein, trotzdem sind sie gut beraten, wenn sie das Land sofort verlassen und so weit rennen, wie sie nur können, dachte Cædmon. Wer weiß besser als William, wie mächtig der Bastard eines mächtigen Mannes werden kann.
»Sag, was ist mit Hyld?« fragte er schließlich. »Vater hat von ihr gesprochen, und es hörte sich an, als sei sie fort.«
Eadwig schüttelte langsam den Kopf. »Sie ist wieder da.« Er wies auf die Tür zum Hinterzimmer.
Cædmon erhob sich widerwillig. Er hatte es satt, der Unglücksbote zu sein.
»Hat er von mir auch gesprochen?« fragte Eadwig flehentlich.
Cædmon sah auf ihn hinab. Sein Bruder hatte die Unterlippe zwischen die Zähne genommen und blickte mit großen, kummervollen Augen zu ihm auf. Wie jung er noch ist, fuhr es Cædmon durch den Kopf, und plötzlich wollte er nichts so sehr wie seinen kleinen Bruder vor allem Leid und Kummer beschützen. Die Heftigkeit des Gefühls verblüffte ihn.
»Ja, er hat von dir gesprochen. Er hat mir aufgetragen, für dich zu sorgen. Und das werde ich auch tun. Ich verspreche es dir, Eadwig.« Und das bedeutete vermutlich, daß er fortan tun mußte, was William der Bastard von ihm verlangte, ganz gleich, was es war. Erst jetzt ging ihm auf, wie erpreßbar er wirklich geworden war, jetzt da er plötzlich die Verantwortung für seine Familie trug, für den ganzen Haushalt, genau genommen für jeden Mann, jede Frau und jedes Kind in Helmsby. Der Gedanke machte ihm himmelangst, und er schob ihn lieberschnell von sich, wandte sich ab und ging mit entschlossenen Schritten auf die Tür zum Hinterzimmer zu.
Er trat ohne zu zögern ein und blieb dann wie vom Donner gerührt stehen. Seine Schwester saß auf einem Schemel unter dem pergamentbespannten Fenster. Und sie hielt ein Kind im Arm.
»O mein Gott …«
Hyld hob den Kopf, und als sie ihn erkannte, sprang sie mit einem gedämpften Jubellaut auf. »Cædmon!«
Er trat zu ihr und nahm sie behutsam mitsamt dem Kind in die Arme. »Ich sehe, es hat sich allerhand ereignet, während ich weg war. Ist das mein Neffe oder meine Nichte?«
Hyld küßte ihm liebevoll die Wange und legte ihm das schlafende Baby in die Arme. »Dein Neffe. Olaf, nach seinem Paten.«
Was für ein verfluchter Wikingername, dachte Cædmon flüchtig, aber jetzt war nicht der geeignete Moment, darüber zu streiten. Er sah auf das friedvolle, kleine Gesicht hinab. Sein Neffe hatte dichte dunkle Wimpern, und der Flaum auf seinem Kopf war rabenschwarz.
»Gott segne dich, Olaf«, murmelte er und strich behutsam mit dem Daumen über die rosige Stirn. »Gott segne dich. Du scheinst mehr auf deinen Vater zu kommen, wer immer er sein mag.«
Hyld straffte die Schultern, ohne es zu merken. »Hör zu, Cædmon …« »Nein, Hyld, hör du zu.« Und er wiederholte seine traurige Botschaft. Seine Schwester sah ihn an, ohne zu blinzeln, mit einemmal sehr bleich. Er erkannte Trauer und Schmerz in ihrem Gesicht, aber nicht die gleiche unkomplizierte Trauer wie Eadwigs oder auch seine eigene, nicht den unverwindbaren Schmerz, den er in den Augen seiner Mutter gesehen hatte. Er gab Hyld das Kind zurück.
»Vielleicht solltest du ihn zu ihr bringen. Vielleicht kann er sie trösten.«
Hyld schüttelte langsam den Kopf. »Ich kann nicht, Cædmon. Sie hat noch kein Wort mit mir gesprochen, seit ich zurückgekommen bin«, sagte sie tonlos.
Er riß verständnislos die Augen auf. »Was? Wieso nicht?«
Zwei Tränen liefen über ihr Gesicht. »Wenn ich dir das sage, wirst du auch nicht mehr mit mir reden wollen. Und … ich weiß nicht, ob ich
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