Das zweite Königreich
wäre vielen Freunden nie begegnet, die ich heute habe. Oft war es furchtbar …« Er dachte an seine Flucht aus dem Ponthieu, an Jehan de Bellême und den Monat in dem rattenverseuchten Verlies. »Und ich meine furchtbar, wenn ich furchtbar sage. Aber ich möchte es auf keinen Fall missen.«
»Ja. Ich weiß, wie das ist, glaub mir.« Eriks Leben in Helmsby war oft genug die Hölle gewesen, aber wäre er Ælfric in Metcombe nicht in die Hände gefallen, wäre er Hyld nie begegnet.
Marie de Falaise war eine Dame von großer Beherrschtheit und ehernen Grundsätzen. Das bedeutete zum einen, daß sie ihren Schmerz mit sich allein ausmachte. Niemand sah sie weinen, hörte sie klagen oder hätte ahnen können, daß sie mit Gott haderte. Als sie ins Haus zurückkehrte, war sie bis auf die Haut durchnäßt, aber vollkommen gefaßt. Diese Wesensart bedeutete jedoch andererseits auch, daß sie nicht zuließ, sich durch ihren Kummer ihrer Tochter gegenüber milde stimmen zu lassen. Hyld hatte sich jede erdenkliche Mühe gegeben, mit ihr zu sprechen. Aber vergebens. Marie hatte ihr Enkelkind auf den Arm genommen und gewiegt, wollte es gar nicht mehr hergeben, doch ganz gleich, was Hyld sagte oder tat, ihre Mutter gab ihr eisiges Schweigen nicht auf.
Trotzdem ließ Hyld Mann und Kind bedenkenlos in Maries Obhut zurück und ritt auf Cædmons Bitte hin nach Ely, um Guthric für die Beerdigung ihres Vaters nach Hause zu holen. Es war niemand sonst da, der gehen konnte, Cædmon war unabkömmlich, weil es hundert verschiedene Dinge gab, um die er sich kümmern mußte, und Hyld kannte außerdem den Weg.
Als Cædmon sie am nächsten Vormittag mit ihrem Bruder zusammen in den Hof einreiten sah, spürte er förmlich, wie sein Herz leichter wurde.
Mit langen Schritten überquerte er den Hof und riß Guthric aus dem Sattel der sanften Mähre, die ihn hergebracht hatte.
»Guthric!« Er umarmte ihn innig. »Guthric …«
Sein Bruder machte sich mit einem leisen Lachen los. »Du brichst mir ja die Knochen.«
»Entschuldige.«
Sie sahen sich an und lächelten scheu, plötzlich befangen.
»Bruder Oswald sendet dir herzliche Grüße«, sagte Guthric schließlich.»Und sein Beileid.«
»Danke.«
»Er ist jetzt unser Subprior, weißt du. Eine wirklich wichtige Persönlichkeit.«
»Und was ist mit dir? Wie ist es dir ergangen?«
Guthric atmete tief durch und sah sich langsam im schlammigen, freudlosen Innenhof um. »Gut«, sagte er leise. »Seit dem Tag, da ich Helmsby verlassen habe, weiß ich, wozu Gott mich auf diese Welt geschickt hat. Ich habe einen Ort gefunden, wohin ich gehöre. Und das verdanke ich nur dir, Cædmon.«
»Ich bin froh, Guthric.«
»Und du?«
Cædmon verzog einen Mundwinkel. »Ich habe bislang nur Orte gefunden, wohin ich nicht gehöre.« Er legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter. »Komm hinein. Du auch, Hyld. Jetzt, da wir alle zusammen sind, sollten wir die Dinge bereden.«
Guthric zögerte. »Wo ist Vater? Ich würde ihn gern sehen.«
Cædmon schüttelte den Kopf und erklärte, warum der Sarg verschlossen war.
»Das ist mir gleich«, erwiderte Guthric. »Ich muß nicht die leere Hülle sehen, um für die Seele zu beten. Aber ich will einen Augenblick an seiner Seite sein.«
»Er ist im Dorf. In der Kirche. Ich bin mit Vater Cuthbert übereingekommen, daß das die beste Ruhestätte ist, bis wir ihn beerdigen.«
Guthric nickte zustimmend. »Dann entschuldige mich eine halbe Stunde.«
»Ich komme mit dir.«
Seite an Seite gingen sie die halbe Meile bis nach Helmsby über schlammige Wiesen und schmale Waldpfade, ohne viel zu reden. Cædmon genoß die Gesellschaft seines Bruders. Zum erstenmal seit Hastings spürte er so etwas wie Frieden. Dabei war es keineswegs so, als hätte sich nichts geändert. Mehr als zwei Jahre waren vergangen, sie waren älter geworden, Guthric trug eine Benediktinerkutte und Cædmon normannische Kleidung und ein normannisches Schwert. Als sie sich zuletzt gesehen hatten, waren sie Kinder gewesen. Inzwischen hatte Guthric seine Berufung gefunden und Gott. Cædmon hatte keine so großen Errungenschaften vorzuweisen. Alles, was er gefunden hatte, waren ein paar Einsichten über sich selbst, eine zweite Heimat und eineFrau, die er liebte. Aber all das war für den Augenblick von keiner besonderen Bedeutung. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das starke Band von Sympathie gepaart mit naher Verwandtschaft stellte sich sofort wieder ein, und ohne jede Mühe konnten sie
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