Das zweite Königreich
Freunden vermißte. Aber nachdem sein Bruder ins Kloster zurückgekehrt war, hatte Cædmon unablässig an Etienne, Roland, vor allem an Wulfnoth denken müssen. Etienne lachte leise. »Ich enttäusche dich höchst ungern, aber in erster Linie ist es unser Herzog, der deine Rückkehr herbeigesehnt hat. Ichglaube, wenn du wirklich erst am Sonntag gekommen wärst, wäre er vorher vor Ungeduld geplatzt.«
Cædmon war keineswegs wohl bei dem Gedanken, daß William solchen Wert auf seine Dienste legte. »Tja, ich bin schneller vorangekommen als erwartet. Es war wirklich nicht schwer, euch zu folgen.«
Etienne verzog mißfällig das Gesicht. »Ich weiß. Es war … ein harter Weg.«
Cædmon nickte, erinnerte sich an ihr Abkommen und wechselte das Thema. »Komm, laß uns sehen, ob wir etwas Heißes zu trinken bekommen. Ich bin seit Tagesanbruch unterwegs und steifgefroren.«
Etienne willigte ein, führte ihn zu einem der Küchenzelte und erbat heißen Würzwein. Schließlich bekamen sie einen dampfenden Krug und zwei Becher, und Etienne ging voraus zu ihrem Zelt. Niemand war dort. »Wir sind erst seit gestern hier und werden wohl auch nicht lange bleiben, aber ich habe dafür gesorgt, daß hier ein Bett für dich hergerichtet wurde. Damit du nicht wieder meines kaperst.«
Cædmon stieß lächelnd mit dem Becher an Etiennes. »Danke.« Dann setzte er sich auf das erstbeste Strohlager, streckte die Beine aus und drückte die freie Hand in sein müdes Kreuz. »Wie geht es Lucien?« Etienne hob kurz die Schultern. »Gut. Er hat Glück gehabt. Kein Fieber, kein Wundbrand, sie mußten den Arm nicht weiter abnehmen. Das verdankt er dir, heißt es.«
Cædmon winkte ab. »Blödsinn.«
»Man könnte jedenfalls meinen, es macht ihm überhaupt nichts aus. Er ist nicht schwermütig. Oder wenn, läßt er es sich nicht anmerken. Sobald die Wunde verheilt war, hat er seinen Dienst wieder aufgenommen. So als wäre nichts geschehen. Er verliert kein Wort über sein Mißgeschick, hat keinem Menschen erzählt, was genau sich unter Harolds Standarte abgespielt hat, und übt sich jede freie Minute im einarmigen Kampf. Man … kommt nicht umhin, ihn zu bewundern. Er läßt sich wirklich nicht gehen. Jehan wäre erstaunt.«
Cædmon nickte wortlos. Er dachte an seine eigene Verwundung vor beinah drei Jahren. Wenn es wirklich stimmte, daß Lucien sein Schicksal ohne Bitterkeit hinnahm, dann mußte er ihn in der Tat bewundern. Das hatte er nicht fertiggebracht.
Etienne räusperte sich. »Cædmon, wir haben uns vor deiner Abreise nicht mehr gesehen, und ich hatte keine Gelegenheit, dir zu sagen, wie leid es mir tut, daß dein Vater und Bruder gefallen sind.«
»Danke, Etienne.«
»Das muß … eine sehr traurige Heimkehr für dich gewesen sein.«
Cædmon atmete tief durch und starrte in das beinah schwarze Gebräu in seinem Becher. Hier in dem unbeheizten Zelt war es kaum wärmer als draußen, sein Atem bildete weiße Dampfwolken. Er nahm einen tiefen Zug. Der Wein war wunderbar heiß, schmeckte nach Zimt und Nelken, und seine Glut breitete sich in wohligen Wellen in seinem Körper aus.
»Ja, das war es wohl. Soweit es denn überhaupt eine Heimkehr war. Jedenfalls war ich froh, meine Mutter und Geschwister wiederzusehen, so traurig der Anlaß auch gewesen sein mag …« Er brach ab. Wie sollte er Etienne seine widersprüchlichen Empfindungen erklären? Er durchschaute sie ja nicht einmal selbst. Und es befremdete ihn, wie erleichtert er war, aus Helmsby fort zu sein.
»Etienne, was ist nur geschehen? Wie konnte es passieren, daß die Normannen so eine Schneise der Verwüstung von Kent bis nach Berkshire gezogen haben?«
Etienne antwortete nicht sofort. Er trank, drehte den Becher dann zwischen den Händen und dachte eine Weile nach. »Wie ich sagte, es war kein leichter Weg. Hier und da stießen wir auf heftigen Widerstand, und der Herzog hielt es offenbar für das klügste, von vornherein unmißverständlich klarzustellen, was er von Widerstand hält. Nachdem er Romney in Schutt und Asche gelegt hatte, öffneten Dover und Canterbury uns anstandslos die Tore, aber dann wurde das Wetter schlecht, wir fanden keinen Proviant und bekamen allesamt die Ruhr. Grauenhaft …«
Cædmon nickte. Er hatte unterwegs davon gehört, daß Gott das ganze Besatzerheer mit einer Epidemie geschlagen hatte, sie sich aber trotzdem nicht davongemacht hatten.
»Dann kamen wir nach London, und diese törichten Adligen und Bischöfe verweigerten dem Herzog den
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