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Das zweite Königreich

Das zweite Königreich

Titel: Das zweite Königreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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ins Wort.
    Richard sah auf und stöhnte.
    Lucien trat gemächlich näher, blieb vor ihnen stehen und legte die rechte Hand um den linken Oberarm. Die Geste war ein merkwürdiges, halbes Armeverschränken, aber sie wirkte keineswegs grotesk. Nur mißfällig.
    »Ich störe dieses Plauderstündchen ja nur ungern, aber wenn ich mich recht entsinne, hatte ich gesagt, zur Vesper. Richtig? Und was hörte ich eben? War’s die Vesperglocke? Oder stimmt was nicht mit meinen Ohren?«
    Die Prinzen erhoben sich schleunigst, und Lucien ohrfeigte sie beide. Hart genug, daß Rufus blinzelnd gegen seinen Bruder taumelte.
    »Ich rate euch, laßt mich nicht noch einmal warten.«
    »Nein, Lucien.«
    Cædmon wandte den Kopf ab. Es mußte ja nicht unbedingt sein, daß Lucien seine angewiderte Grimasse sah. Dann stand er auf und stellte sich neben die kleinlauten Prinzen.
    »Es war meine Schuld, Lucien, ich hätte sie zu dir schicken sollen. Ich hab’s vergessen.«
    »Nur schade, daß ich dich nicht ohrfeigen kann«, gab Lucien mit dem Anflug eines Lächelns zurück. »Da seht ihr, wie ungerecht die Welt ist, Jungs. Und jetzt los, worauf wartet ihr!« Er verpaßte Rufus eine aufmunternde Kopfnuß, und die Jungen verabschiedeten sich hastig vonCædmon und stoben davon, liefen um die Halle herum auf die Nordseite, wo der Sandplatz lag. Lucien folgte ihnen, ehe Cædmon noch etwas sagen konnte.
    Cædmon sah ihnen kopfschüttelnd nach und seufzte. Er hatte sich strikt geweigert, die militärische Ausbildung der beiden Prinzen zu übernehmen. Dabei hätte es ihm Spaß gemacht, sie im Umgang mit Schwert, Lanze und Wurfspieß zu unterrichten. Aber nicht auf normannische Art. Cædmon war nicht zimperlich; nicht gelernte Aufgaben oder mangelnde Aufmerksamkeit ahndete auch er mit Ohrfeigen, das war schließlich völlig normal. Doch um nichts in der Welt wollte er ein erbarmungsloser Schleifer sein wie Jehan de Bellême. Seit er den Krieg gesehen hatte, verstand er in gewisser Weise die Notwendigkeit, sah ein, daß es einen Sinn hatte. Aber trotzdem wollte er nicht tun, was Jehan de Bellême tat, wollte auch nicht so leidenschaftlich gehaßt werden, wie Jehan de Bellême gehaßt wurde. Lucien de Ponthieu hingegen schien das nicht im mindesten zu beunruhigen. Cædmon mußte allerdings auch einräumen, daß Lucien eine bessere Methode gefunden zu haben schien als Jehan. Richard und Rufus fürchteten sich vor ihm und ließen keine Gelegenheit aus, sich über ihn zu beklagen. Lucien trieb sie zur völligen Erschöpfung, überforderte sie absichtlich, ging sparsam mit seinem Lob um und schlug sie unbarmherzig. Aber er demütigte sie nicht. Und darum haßten sie ihn auch nicht.
    »Denn unser einarmiger Finsterling ist im Grunde seines Herzens ein anständiger Kerl«, murmelte Cædmon, reckte sich in der warmen Abendsonne und lachte vor sich hin.
    »Nur ein Tor lacht über nichts«, bemerkte eine Stimme hinter seiner linken Schulter.
    Cædmon fuhr herum. »Etienne! Was in aller Welt verschlägt dich hierher?«
    Etiennes Vater, Guillaume fitz Osbern, war nach wie vor der engste Vertraute des Königs und inzwischen der Earl of Hereford. Wenn der König in der Normandie weilte, was in den letzten zweieinhalb Jahren häufiger vorgekommen war, regierte fitz Osbern an seiner Statt England, zusammen mit dem Bruder des Königs, Bischof Odo, der der Earl of Kent war. Odos Aufgabe war vergleichsweise einfach. Der Südosten Englands hatte sich schnell auf die geänderten Verhältnisse eingestellt und sich der normannischen Herrschaft unterworfen. Hereford lag nahe der walisischen Grenze, vor allem aber weiter nördlich, und KönigWilliam nannte fitz Osbern seinen »Wächter des Nordens«. Das war kein sehr dankbares Amt.
    Etienne und sein älterer Bruder Roger standen ihrem Vater bei seiner schwierigen Aufgabe zur Seite, und deswegen hatte Cædmon seinen Freund in letzter Zeit nicht häufig gesehen.
    Etienne umarmte Cædmon herzlich. »Vater schickt mich mit Nachrichten zum König. Außerdem hatten wir Sehnsucht nach euch allen, also haben wir uns gesagt, warum verbringen wir den Sommer nicht bei Hofe.«
    Cædmon lächelte. »Was für eine wunderbare Idee«, sagte er voller Wärme.
    Manchmal befremdete es ihn, wie mühelos er sich verstellen konnte. Sie würde hier sein. Wenn Etienne den Sommer hier verbringen wollte, hatte er sie mitgebracht. Schließlich gehörte sie zum Gefolge der Königin, es lag nur nahe. Aber es bedeutete, daß jeder Tag dieses Sommers ein

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