Das zweite Königreich
gleich und lächelte nur vage, ohne wirklich aufzusehen in ihre Richtung. » Bonne nuit .«
Der Mai blieb heiß. Die Straßen von Winchester wurden rissig, und jedes Pferd, jeder Karren wirbelte gewaltige Staubwolken auf. Das Grün der umliegenden Felder und Wälder war noch hell und frühlingshaft, aber schon senkte sich der erste graue Schleier darauf hinab.
Am Tag vor Christi Himmelfahrt saß Cædmon mit seinen beiden Schülern im Schatten einer Buche und erzählte ihnen von den großen Gelehrten und der Blütezeit der Klöster unter König Edgar.
»Innerhalb von nur fünfzehn Jahren wurden über vierzig Abteien gegründet oder wiederbelebt. Zu den neuen Klöstern zählten auch so berühmte und mächtige Häuser wie Ramsey und Ely.«
»Wo dein Bruder ist?« fragte Rufus.
»Stimmt genau. Oswald und Dunstan und Æthelwold und all ihre Schüler, die dem Geist von Cluny folgten, reformierten auch die Klöster, die es schon gab – nicht zuletzt hier in Winchester –, und verbreiteten Frömmigkeit, strenge Klosterregeln und Gelehrsamkeit im ganzen Land.«
»Aber was war mit dem Klerus? Wurden die Priesters auch reformiert?« wollte Richard wissen.
Cædmon zog die Brauen in die Höhe, und der Junge überdachte seinen Satz. »Wie muß es heißen?« fragte er.
»Priester«, antwortete Rufus.
»Aber das ist die Einzahl«, protestierte Richard. »Ein Priester. Zwei Priesters. Oder?«
Cædmon lachte in sich hinein. »Rufus hat recht. Ein Priester, zwei Priester.«
Richard schlug mit der Faust ins Gras. »Aber das ergibt keinen Sinn!« »Nein, ich weiß.«
Richard wedelte die Grammatik als hoffnungsloses Unterfangen beiseite. »Jedenfalls sagt Vater, die englische Kirche sei ein einziger Sauhaufen, ihre Priesters … Priester allesamt ungebildete, gottlose Frevler. Also, Cædmon. Was ist aus der wunderbaren Reform geworden?«
»Ja, das wüßte ich auch zu gern, Cædmon«, sagte eine tiefe Stimmehinter ihnen, und sie sprangen alle drei auf die Füße und verneigten sich tief.
»Sire«, grüßte Cædmon.
William winkte sie zurück auf ihre Plätze und setzte sich zu ihnen ins Gras. »Fahrt fort und belehrt mich über meine unergründlichen englischen Untertanen.«
Cædmon grinste und sagte achselzuckend: »Nun, die Reform blieb auf die Klöster beschränkt. Und nach König Edgars Tod verlor sie an Bedeutung. Neue Däneneinfälle versetzten das Land in Angst und Schrecken, und Schwerter wurden wieder wichtiger als Gelehrsamkeit.«
Wären sie allein gewesen, hätte Richard an dieser Stelle eingewandt, daß doch gewiß die Schwerter in Händen christlicher Streiter im Kampf gegen heidnische Wikinger der Führung der Kirche bedurften. Aber keiner der Jungen sagte etwas. Die Anwesenheit ihres Vaters machte sie befangen.
William schien das nicht zu bemerken. Er nickte Cædmon auffordernd zu, und der junge Angelsachse fuhr mit seinem Geschichtsunterricht fort. In englischer Sprache. Der König lauschte mit konzentriert gerunzelter Stirn. Wie immer war es unmöglich zu sagen, was er verstand. Er sprach nie ein Wort Englisch – er behauptete, er fürchte, sich bei dem Versuch Zunge und Gaumen irreparabel zu verbiegen –, und er ließ sich bei Verhandlungen immer noch jedes Wort übersetzen, das in der einheimischen Sprache gesprochen wurde. Es war nicht immer nur Cædmon, der diesen Dienst versah, inzwischen gab es auch eine Reihe von Mönchen, die beide Sprachen beherrschten und denen der König hinreichend traute. Aber wenn Cædmon für ihn übersetzte, tat er es heute mit größerer Vorsicht denn je. Er war einigermaßen sicher, daß William so gut wie jedes Wort verstand, und Cædmon hatte seine grausige Warnung von Berkhamstead nie vergessen.
Der König schien Cædmons Verdacht zu bestätigen, als er am Ende seines Vortrags sagte: »Aber Ihr könnt nicht leugnen, daß Oswald und Dunstan letztlich gescheitert sind. Der Geist von Cluny hat Edgars Regentschaft hier nicht lange überdauert.«
Cædmon wiegte den Kopf hin und her. »Es ist unterschiedlich«, antwortete er auf normannisch. »In Ely, Ramsey oder Glastonbury lebt er weiter. Ihr selbst sagtet kürzlich, daß die Bücher, die in Ely hergestellt werden, es mühelos mit denen aus Bec aufnehmen können.«
William nickte. »So sagen meine gelehrten Ratgeber, ja. Trotzdem. Ich bleibe dabei, die englische Kirche ist ein Schweinestall, und ihre Reform eins meiner dringendsten Anliegen. Die meisten englischen Priester können weder lesen noch Latein,
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