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Das zweite Königreich

Das zweite Königreich

Titel: Das zweite Königreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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Artgenossen und wirst mir die Augen aushacken, wenn ich nicht vorsichtig bin, aber selbst du bist besser als überhaupt keine Gesellschaft.«
    Auf dem anstrengenden, freudlosen Ritt von East Anglia zur Küste hinunter hatte er sich manchmal so allein gefühlt, daß er sich Unterhaltungen mit Guthric ausgedacht hatte. Er hatte sich vorgestellt, sein Bruder sei mit ihm zusammen auf diese Reise ins Unbekannte geschickt worden, und das hatte das Gefühl von Verlorenheit ein wenig gemildert. Manchmal wußte er so genau, was Guthric gesagt hätte, wenn sie einen auffälligen Baum passierten oder irgendwer in Hörweite etwas besonders Dummes von sich gab, daß Cædmon Guthrics Stimme beinah hören konnte, und dann grinste er verstohlen vor sich hin und vergaß für ein Weilchen, wie kalt und naß und hungrig er war.
    Sie hatten weder in Westminster haltgemacht, wo der König sich derzeit aufhielt und wie so oft den von ihm initiierten Bau der neuen Klosterkirche beaufsichtigte, noch in Winchester. Cædmon mußte gestehen, daß er enttäuscht war. Aber Harold Godwinson war in Eile. Die erste kurze Nacht verbrachten sie auf einem seiner Güter in der Nähe von Maldon, und einer der Männer hatte abends in der Halle ein langes Versgedicht vorgetragen, das von einer erbitterten Schlacht erzählte, die der ruhmreiche Byrhtnoth dort in Maldon gegen die Dänen geschlagen und verloren hatte. Tief berührt hatte Cædmon gelauscht. Natürlich kannte er sowohl die Geschichte der Schlacht als auch das Lied, denn Maldon lag nicht weit von Helmsby entfernt, doch hatte er nie zuvor einen so guten Spielmann gehört. So eindringlich war sein Vortrag, daß man beinah glaubte, man sehe das grausame Gemetzel mit eigenen Augen,höre die trotzigen Worte der sterbenden Krieger mit eigenen Ohren. Es hatte ihn beunruhigt, aber gleichzeitig zutiefst beeindruckt.
    Am zweiten Abend waren sie zu einem weiteren Haus des Earl in Sussex gekommen, am dritten Tag endlich nach Bosham, wo Harold ebenfalls eine Halle besaß. Sie war größer als jedes Haus, das Cædmon je gesehen hatte. Über der eigentlichen Halle lag ein zweites Stockwerk, wo der Earl seine private Kammer hatte, die ihm und seiner Geliebten Edith nicht nur als Schlafraum, sondern auch der sicheren Aufbewahrung seiner Geldschatullen, Reliquien, goldenen Trinkbecher und anderer kostbarer Gegenstände diente. Auch ihre zahlreichen Söhne und Töchter und die Würdenträger seines Haushaltes wohnten in eigenen Kammern. Cædmon fragte sich, wie es wohl sein mochte, wenn man einen Raum ganz für sich allein hatte oder nur mit seinen Brüdern teilen mußte. Er konnte es sich überhaupt nicht vorstellen.
    In Bosham waren die Vorbereitungen für die Überfahrt in die Normandie bereits in vollem Gange. Die Thanes und Housecarls und Soldaten, die mitreisen sollten, waren schon alle versammelt. Cædmon staunte, wie viele Männer es waren. Gewiß nicht weniger als hundert. Er hatte versucht, niemandem im Weg zu sein und nicht aufzufallen. Meist drückte er sich irgendwo im Schatten herum. Keiner nahm Notiz von ihm, und er wagte nicht, irgendwen anzusprechen. In Harolds Hallen herrschte ein rauher Umgangston. Es wurde mehr getrunken, als in Helmsby üblich war, und manche der Männer waren streitsüchtig wie Kampfhähne. Je mehr das Gefolge anschwoll, um so voller wurde es in der Halle. In der letzten Nacht hatte Cædmon nur mit Mühe einen Platz finden können, wo er sich niederlegen konnte. Geschlafen hatte er kaum. Die hohen Deckenbalken hatten förmlich gebebt vom Schnarchen der Betrunkenen, und gleich links neben Cædmon vergnügte sich einer von Harolds Housecarls mit einer Magd. Der Mann zu seiner Rechten lag allein und schnarchte auch nicht, aber er stahl Cædmon die Decke. Der Junge hatte nicht gewußt, was er tun sollte, er fürchtete, er würde sein Leben aufs Spiel setzen, wenn er sie zurückforderte. Also hatte er gefroren und mit einer seltsamen Mischung aus Faszination und Bestürzung den kaum gedämpften Lustschreien der scheinbar unersättlichen Küchenmagd gelauscht. Das erste graue Tageslicht kroch schon durch die Ritzen der hölzernen Wände, als er endlich einschlief.
    Am Morgen hatte Earl Harold sich mit seinem gesamten Gefolge in diekleine Kirche von Bosham gedrängt, um für ein gutes Gelingen seiner Mission zu beten, und dann waren sie zur Küste geritten.
    »Und wie mag es jetzt weitergehen, hm?« fragte Cædmon den Falken. Der Vogel legte den Kopf schräg, lief seitwärts seinen

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