Das zweite Königreich
Krüppel, Cædmon. Du bist ein Feigling mit einem steifen Bein.«
Cædmon fuhr zurück, zu erschüttert, um zu antworten.
Es war einen Moment still. Er versuchte, sich selbst mit Distanz zu betrachten, um zu ergründen, ob sein Vater recht hatte. Er kam zu keinem befriedigenden Ergebnis. Es stimmte vermutlich, daß er zuviel Zeit damit zubrachte, über sein Los nachzugrübeln. Daß er damit haderte. Aber hatte er nicht auch verdammt guten Grund?
»Also schickst du mich deswegen fort, ja? Weil ich ein Feigling mit einem steifen Bein bin?«
»Nein.« Es klang abweisend und hart.
Cædmon nickte langsam. »Kann ich gehen?«
»Nein.«
Also wartete er.
Der laue Aprilabend schwand schnell, es war beinah dunkel. Die Wiesen unter den Obstbäumen hatten die Farbe von geschmolzenem Blei angenommen, die Vögel waren verstummt, und es war sehr still. Cædmon sah seinen Vater nur noch als schemenhaften Schatten, sah das Weiße seiner Augen leuchten.
Schließlich seufzte Ælfric. »Du bist nicht der einzige, dem meine Entscheidung nicht gefällt, weißt du. Dunstan kocht vor Wut. Er würde eine Hand dafür geben, mit Harold in die Normandie zu gehen und die Welt zu sehen.«
»Dunstans Pech, daß du auf ihn nicht verzichten kannst.«
»Bei allen Heiligen, Cædmon … Ich habe dich ausgewählt, weil du der klügste meiner Söhne bist.«
Cædmon schnaubte höhnisch, und sein Vater packte ihn nicht gerade sanft am Arm. »Dein Respekt läßt ziemlich zu wünschen übrig, mein Sohn.«
Der Junge sah ihm in die Augen. »Ja. Gefährliche Gewässer für einen Feigling.«
»Du …«
Cædmon wich einen Schritt zurück und hob begütigend die freie Hand. »Es tut mir leid. Ich will dich nicht verärgern, und ganz sicher wollte ich dich vor deinem hohen Gast nicht bloßstellen. Aber du bist nicht ehrlich zu mir, Vater. Hättest du deinen klügsten Sohn schicken wollen, hättest du Guthric auswählen müssen.«
Diesmal schnaubte Ælfric und ließ ihn los. »Soll ich einen Träumer schicken, der nie mit seinen Gedanken bei der Aufgabe wäre? Und Guthric beherrscht die Sprache deiner Mutter nicht halb so gut wie du.«
»Das ist nicht wahr, und Guthric ist auch kein so hoffnungsloser Träumer, wie du annimmst. Aber ich will nicht, daß du ihn an meiner Stelle schickst. Ich wünschte mir nur, du würdest ehrlich zugeben, warum du mich ausgesucht hast.«
»Ich habe dir die Wahrheit gesagt, und an deiner Stelle würde ich mir gut überlegen, ob du das noch einmal in Zweifel ziehen willst.«
Cædmon mochte sich im Augenblick nicht ganz darüber im klaren sein, ob er ein Feigling voller Selbstmitleid oder ein grausam verstoßener Krüppel war, jedenfalls war er kein Märtyrer. Er hielt den Mund. Ælfric sah zum Nachthimmel auf und pflückte versonnen eine Blüte vom Baum. »Eines Tages wirst du mir dankbar sein, glaub mir.«
Cædmon schnitt verstohlen eine Grimasse. Das konnte er nun wirklich nicht glauben. Er dachte einen Moment nach. »Kann ich dich etwas fragen, Vater?«
»Natürlich.«
»Warum … müssen wir tun, was Harold Godwinson wünscht? Wieso …« Er fand es schwierig, die richtigen Worte zu finden. »Aus welchem Grund kann er einfach herkommen und einen Sohn von dir fordern?« »Er ist der mächtigste Mann in England, Cædmon. Kaum jemand kann es sich erlauben, Harold Godwinson eine Bitte abzuschlagen. Nicht in diesen Zeiten.«
»Aber du bist des Königs Thane und niemandem sonst verpflichtet.« »Harold Godwinson handelt in des Königs Auftrag. Derzeit jedenfalls.«
»Aber was du dem König schuldest, ist klar geregelt. Steuern, Wehrdienst, Männer für den Brückenbau und die Instandhaltung der Straßen. Und das ist alles.«
»Das steht in einer Urkunde, die beinah hundert Jahre alt ist. Aber seither hat die Welt sich gewandelt. Als König Æthelred deinem UrgroßvaterHelmsby überschrieb, war es groß genug, um jeden Haushalt zu ernähren. Mehr als das Sechsfache dessen, was ich heute besitze. Aber dein Ahn teilte es auf unter seinen Söhnen.«
»Ja, ich weiß. Darum sind all unsere Nachbarn Verwandte. Wie Onkel Ulf of Blackmore zum Beispiel.«
»So ist es. Mein Vater war klüger. Er teilte das verbliebene Land nicht noch einmal auf, sondern vermachte es mir, seinem ältesten Sohn. Aber er dachte nicht darüber nach, was aus meinem Bruder werden sollte. Er schickte Athelstan an den Hof des Königs, und heute ist er ein Herumtreiber und ein Taugenichts.«
Cædmon lächelte unwillkürlich, als der Name des
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